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Grillen, sieben Acts ... und ein absolut strenger Zeitplan

Festival ist da, wo Du bist - das höre ich gerade auf ARTE, als ich diese Zeilen schreibe.  Wenn dem so ist, dann hatten wir letzten Samstag im Hamm ein Riesen-Festival.

Ein Jahr hatte Winnies Schwingungen-Party ausgesetzt, dieses Jahr durfte sich Elektronik-Fans wieder in Winnies wunderschönem Garten in Hamm einfinden, um in lockerer Atmosphäre Musik zu genießen, dabei das eine oder andere zu essen oder einfach ein bisschen zu klönen.  Man könnte meinen, Winnie und seine Mit-Streiter wollten dieses Mal alles nachholen, was letztes Jahr nicht war.  Ein Blick auf den Zeitplan verriet nicht weniger als sieben (!) Acts - wo bekommt man so etwas sonst noch geboten, und auch noch für schlappe 20 Euro Umkostenbeteiligung?  Diese enorme Zahl an Konzerten war wohl nicht so geplant, aber - so die Veranstalter - man bekam einfach so viele gute Angebote, die man nicht ausschlagen konnte.  Nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker scheinen die entspannte Atmosphäre zu schätzen.

Auch wenn die Party bereits kurz nach Mittag beginnt, bei so vielen Auftritten ist ein strenger Zeitplan angesagt, wenn man nicht will, dass das letzte Konzert erst am Morgen des nächsten Tages über die Bühne geht.  Die "Bühne" ist in diesem Fall nämlich die Terrasse, und die bietet nur für einen oder zwei Künstler Platz, je nachdem wie viel Gerätschaft sie mitgebracht haben.  Zwischen den Acts muss also umgebaut werden, man kann nicht wie in Detmold oder Oirschot im voraus alles aufbauen und nach und nach nach vorne ziehen.

Frank verkündet denn auch vor dem ersten Konzert, wie eminent wichtig es wäre, dass der Zeitplan eingehalten wird.  Nun, lieber Frank, wir wissen, wie das gemeint ist, und auch wie es ausgehen wird, also legt man schon einmal Jacke und Decke für die Nacht bereit.  In diesem Jahr liefert der Sommer ja bisher eine eher durchwachsene Vorstellung ab.

Den Auftakt macht Christian Ahlers aka BatteryDead, der praktischer Weise gerade seine neue CD "Yield To Gravity" im Gepäck hat.  Die Stücke davon bilden denn auch den Kern seines Programmes: sanfte Elektronik, aber mit unheimlich viel Power, so wie man es von ihm kennt.  Brausenden Applaus bekommt er mittendrin von oben gespendet, der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet.  Dies bleibt zum Glück der einzige dicke Regenguss, und weder Zuschauer noch Synthies wurden dabei ernsthaft nass.  Wie auch schon in früheren Jahren sind Bühne, Technik und Zuschauerraum überdacht, und auch im Rest des Gartens gibt es genug Möglichkeiten, sich unter-zustellen. Christian kann also ungestört weitermachen, und auch um eine Zugabe kommt er nicht herum.

Erste Pause, erste Gelegenheit, mal zu schauen, was dieses Mal zu Essen bereit steht.  Würstchen, Steaks und Salate sind für ein Grillfest natürlich obligatorisch, aber wer will, kann dieses Mal auch eine Portion veganes Chilli mit Reis bekommen.  Auch hier Respekt vor den Organisatoren und was sie auf die Beine gestellt haben!

Noch relativ pünktlich ging es mit Rike & Erik weiter.  Viele werden Rike Casper und Erik Matheisen das erste Mal live gesehen haben, dies ist aber immerhin schon ihr dritter Auftritt seit der Premiere letzten Herbst in Dortmund.  Hier haben sich wirklich zwei Musiker gefunden, die sehr gut miteinander harmonieren, wenn sie die Stücke ihrer Erstlings-CD "Contact" präsentieren.  Besonders Erik ist eine unglaubliche Frohnatur und kann kein Keyboard unbespielt lassen, immer wieder reizt es ihn in einer Spielpause zu einer spontanen Einlage.  Dementsprechend Spaß hatte er an dem neuen Titel 'Luther', der am Ende dargeboten wird und zum größten Teil eine freie Improvisation ist.  Eigentlich sollte das der Abschluss sein, ist er natürlich nicht, denn auch die beiden werden nicht ohne eine kleine Zugabe von der Terrasse gelassen.

Mit der nächsten (Umbau-)Pause war man schon am Nachmittag, Zeit für Kaffee und Kuchen, auch davon ist reichlich vorhanden.  Es ist auch genug Zeit, sich durchzuprobieren, der nächste Act hat nämlich reichlich aufzubauen: AGE aus Belgien macht schon seit 40 Jahren Musik und pflegt eindeutig die klassische 'Berliner' Schule der elektronischen Musik.  Passend dazu haben sie eine Riesenmenge an Musik-Hardware mitgebracht - Wie man an den Fotos sehen kann, verschwanden die Beiden fast hinter ihren Türmen.  Zur Eröffnung gab es Blitz und Donner - kein gutes Omen angesichts der heranziehenden dunklen Wolken.  Die ziehen dann aber durch, ohne allzuviel Regen abzuladen, so dass man den Sequenzen und fast meditativen Klängen lauschen kann, ohne dafür Unterstand suchen zu müssen.

Viel Aufbauen bedeutet auch viel Abbauen, dementsprechend lang gerät auch die nächste Pause und der Zeitplan läuft so langsam aus dem Ruder.  Aber was soll's, wir haben heute nichts anderes mehr vor, außer vielleicht einem Schwingungen-Party-Klassiker: dem großen Gruppenfoto aller Anwesenden.  Das letzte Mal ist eine der Aufnahmen auf EmPortal aufgetaucht, dieses Mal bisher noch nicht.  Aber was noch nicht ist, kann ja noch werden.

Cosmic Hoffmann bestreitet den nächsten Auftritt, unter dem Motto "Saiten und Oszillatoren" - das eher überschaubare Equipment besteht aus Gitarren, einer Sitar und einem Memotron.  In der Einleitung erzählt Klaus in seiner launischen Art, wie er dieses Konzert vor zwei Jahren auf der letzten Gartenparty bei 40 Grad im Schatten und nach einem Bier zugesagt hatte.  Er spielt viele neue Sachen, die meisten Titel noch ohne Namen, und es macht ihm sichtlich Spaß, einmal wieder auf einer Bühne zu stehen.  Den Einstieg macht ein ganz ruhiger, meditativer - eben kosmischer! - Gitarren-Part, dem sich nur ganz langsam die Elektronik hinzu gesellt.  Klaus ist einer der (Mit-)Entwickler des Memotrons, einer modernen (und portableren) Variante des in den 70er-Jahren beliebten Mellotrons.  Für jeden, der einmal tief in die Sounds der 70er-Jahre abtauchen wollte, ist diese Performance eine Wohltat.

Neben der elektrischen hat Klaus auch eine akustische Gitarre im Gepäck, ein Geschenk, das - wie er meinte - auch einmal ausprobiert werden muss.  Auch das hat er mit neuen Titeln getan, und mit was ihm gerade so in den Sinn kommt.  Das in den ersten Takten angedrohte 'Stairway to Heaven' hat er dann aber doch ausgelassen - Spaß muss sein.

Nach einem Titel auf der Sitar meint er "Das war's von meiner Seite für heute"...dem wurde aus dem Publikum heftig widersprochen.  Die Zugabe ist zur Abwechslung etwas Rockiges auf der Gitarre, sozusagen um wieder ins hier und jetzt zurückzukehren.

Dafür hat man aber auch in der folgenden Umbaupause wieder genug Zeit, denn Alerick Project - verstärkt um einen dritten Mann - nehmen mit ihrer Technik wieder die ganze Bühne in Beschlag, und bis so ein Aufbau aus einem guten Dutzend Keyboards steht, dauert es nun einmal seine Zeit.  Alerick Project kannte ich bisher nur von ihrem Konzert auf dem Electronic Circus 2014; von dort waren sie mir als Vertreter eines eher poppigen EM-Stils mit kürzeren Titeln in Erinnerung geblieben.  In den ersten zwanzig Minuten demonstrieren sie aber, dass sie es auch anders können: ein einziges episches, langes Stück, an einigen Stellen mit barocken Einlagen.  Danach geht es aber wieder so flott und dynamisch weiter, wie ich es von ihrer Erstlings-CD kannte.

Die Zugabe der Alericks wurde von Jubel unterbrochen, parallel lief pikanterweise das EM-Viertelfinale zwischen Deutschland und Italien. Dieses Spiel zog sich bis in den nächsten Act hinein, angekündigt als der eigentliche Haupt-Act des Abends: Steve Baltes - On my Own, also ohne Stefan Erbe, mit dem man ihn so oft in der letzten Zeit gesehen hatte.

Dass dieses Konzert ganz anders werden wird als das vorige, kann man schon an dem Equipment sehen, das Steve zügig aufbaut - keine Stapel von Keyboards, stattdessen ein Notebook, ein kleiner analoger Synthie und diverse kleinere Effektgeräte, locker über den Tisch verstreut.  Das schwerste Gerät ist ein 110 Volt-Transformator für ein "Mitbringsel aus Übersee".  Das ganze sieht eher wie der Arbeitstisch eines DJs aus, und damit liegt man auch nicht ganz falsch: Für Steve ist das heute schon der zweite Auftritt, heute Vormittag hat er noch auf einem Festival vor locker 45000 Leuten aufgelegt.  

Und was entlockt er seinen Gerät(ch)en?  Erstmal alles ganz locker angehen - slow beats, viele Klangflächen.  Nur mit der Ruhe, wir nehmen uns Zeit, die Sache zu entwickeln, und sie entwickelt sich. Nach und nach nehmen die Maschinen Fahrt auf, die Beats werden fetter, weitere Spuren kommen dazu.  In der Ruhe liegt die Kraft, und was man hier geboten bekommt, hat jede Menge Power.  Irgendwann ist der Höhepunkt überschritten, die Maschinen drehen wieder langsamer, Zwischenstation erreicht.  Ja, das war was, sicher nicht 'klassische EM' a la Jarre, aber ohne Zweifel bemerkenswert.  Tut uns aber leid, lieber Steve, der Jubel zwischendurch gilt dem deutschen Sieg...

Danach bietet Steve noch ein kürzeres Stück, ohne Computer-Unterstützung mit der Hand gespielt, und auch das kann er. Zugabe? - logo!  Er spielt 's-thetic', in der 'Baltes-only' Version. Das gestattet reizvolle Vergleiche, sowohl mit dem Titelstück der gleichnamigen Baltes & Erbe-CD, als auch mit der 'Erbe-Urversion' von Stefans '2club genetica'.

So schnell wie Steve aufgebaut hat, so schnell baut er auch wieder ab.  Die Pause bis zum letzten Act des Abends (oder der Nacht, es ist mittlerweile Sonntag) wird trotzdem länger, Mäläskä und Tommy Betzler haben wieder eine ganze Menge Equipment auf der Bühne zu montieren, und wie das bei solchen Aktionen ist, will auch nicht alles auf Anhieb funktionieren.  Space-Rock ist angekündigt, zu Anfang scheinen die drei aber noch auf unterschiedlichen Umlaufbahnen zu kreisen, das Zusammenspiel will noch nicht so recht klappen.  Irgendwann bekommt Remy aber seine Keyboards zum Laufen und der Knoten ist geplatzt.

Wie dieses letzte Event des Tages ausgegangen ist, muss der Autor dieser Zeilen leider schuldig bleiben - es war halb drei Uhr nachts, und es lagen noch zwei Stunden Heimfahrt nach Aachen vor ihm.  Ich bin's ja gewöhnt, nach Events erst wieder zu nachtschlafender Zeit nach Hause zu kommen, aber halb fünf ist schon heftig.  Als ich in Aachen ankomme, dämmert es schon wieder und die Singvögel haben mit ihrem Morgenkonzert begonnen.  Nächstes Jahr werde ich mir wohl ein Hotelzimmer in Hamm suchen - wie alle anderen Anwesenden auch (von denen nicht alle so lange durchgehalten haben), wünsche ich mir natürlich eine Fortsetzung.

Mäläskä's Debut-CD "Uncle Jim's Cidney Factory" habe ich mir inzwischen besorgt, als kleinen Ausgleich für das letzte Konzert, das ich nicht mehr ganz gesehen habe.  Rezension?  Mal sehen ...

Alfred Arnold

Über Empulsiv

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