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Kolumne: Quo Vadis "EM"? Eine Wasserstandsmeldung...

Vielleicht wird sich der geneigte empulsiv-Leser über die folgenden Zeilen wundern, denn üblicherweise wird hier eher rezensiert, berichtet und ausgefragt. Aber schon seit Wochen, vielleicht sogar seit Monaten, beschleicht den handelsüblichen EM-Fan das Gefühl, dass der nationale Trend zu Wiederbelebung eines niedergehenden Musikgenres, so langsam Formen angenommen hat und man den vielen Guerilla-Kämpfern (zur Erhaltung "traditionell" syntetisch-erzeugter Musik) gratulieren kann, dass ihr virales Marketing nicht nur erfolgreich ist, sondern sogar Tendenzen zur Expansion zu erkennen sind. Sicher, die Menge der CD Verkäufe ist immer noch rückläufig und man sollte weiterhin als EM-Musiker nicht unbedacht den Brot-und-Butter-Job an den midifizierten Nagel hängen, aber Madonna, Lady Gaga und Co. gehts da auch nicht besser. Selten zuvor mussten sie so hart für ihr Geld arbeiten und ihre verglitzerten Körper auf den Mehrzweckhallen dieser Welt zur Schau stellen, um die fehlenden Einnahmen durch Tonträgerverkäufe zu kompensieren. Ergo, den EMlern geht es also in dieser Hinsicht auch nicht schlechter oder besser, als den Marktprimi (oder heisst es doch Primusse).

Aber was verleitet nun zu der Annahme, dass es tatsächlich einen Grund gibt, die Essenz der Zeilen positiv ausfallen zu lassen? Worin besteht der Glaube, dass die lange Zeit ohne Trenklers "Schwingungen" endlich wieder anfängt, größere Sinus-Wellen in den Plusbereich zu schlagen? Nun, dafür bedarf es einer genaueren Betrachtung, um dies zu erklären und zu verstehen...


Schauen wir doch nochmal auf den April 1995 und betrachten die ultimative Trauerzeit aller EM-Jünger. Die Zeit nach der Reformierung von WDR1 und die Transformierung hin zu 1Live. Mit Neugestaltung des Senders fiel die "Brustgebene" Sendung vieler Fans und Independent-Künstler von Heute auf Morgen einfach weg und hinterließ ein schwarzes und milchloses EM-Loch, in den viele Bands und Musiker drohten hineinzufallen. In Spitzenzeiten hörten viele Tausende Menschen die 2 Stunden von Winfried Trenkler und jede vorgestellte CD konnte sich seiner ertragreichen Verkäufe sicher sein, wenn sie in der Sendung vorgestellt wurde. Ein besonderes Auge hatte der Godfather der EM auf den nationalen und internationalen Nachwuchs geworfen und sehr viele der heutigen etablierten Künstler verdanken ihren Durchbruch der Präsentation am Mittwoch Abend auf WDR1 (der Autor dieser Zeilen schließt sich darin ein).  
Nach diesem tonalen Supergau, fehlte es dem nun medienlosen Musikgenre an Struktur und Kompetenz um diesen Wegfall zu stemmen und neue Möglichkeiten aufzutun. Es gab leider keinen Plan B, C oder D. Betrachtet man die 15 Jahre danach, so scheint es gerade so, als ob überhaupt kein Buchstabe des Alphabets ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Begriff "Plan" eingehen wollte und die Szene schrumpfte jährlich weiter und weiter. Einige wenige Aktive, sowohl Fans, Musiker als auch Labels wollten sich aber mit dem Untergang des EM-losen Abendlandes nicht zufrieden geben und programmierten das beschauliche Sequenzer-Süppchen auf kleine Flamme weiter. Gut so, denn von Ihnen sollte erst Jahre später ein neuer Impuls ausgehen.

So ergab es sich, dass innerhalb der synthslastigen Musik der folgenden Jahrzehnte der Begriff "EM" fast ausgestorben war und kaum eine der nachkommenden Generation mit dieser Bezeichnung überhaupt etwas anfangen kann. Tangerine Dream? Schulze? Wer ist das?  Seien wir ehrlich, Cassetten, Schallplatten und Radio über Antenne bringen bei denen die gleichen fragenden Gesichter hervor! Ein "kenne ich" oder "habe ich gehört" bekommt man höchstens von doppelkinntragenden Mittdreißigern, die selbst noch Bandsalatspendende Datenträger repariert haben. Somit ist es nicht verwunderlich, dass man in klassischer Prof. Dr Grzimek-Manier von einer possierlichen, aber fast ausgestorbenen Musikgattung sprechen musste.

Auch wenn der Begriff der (R)Evolution zumindest kein CD-Cover mehr zieren dürfte (ist einfach zu ausgelutscht und zu oft verwandt worden), so können wir ihn aber fast bei der Reinkarnation der EM wieder gelten lassen, denn seit einiger Zeit gibt es nun das, was man weiter oben im Artikel noch als Fehlend ausmachen konnte, nämlich Strukturen. Dazu gesellen sich tatsächlich nun auch kommerzielle Erfolge, wenn auch im überschaubaren Maße. Hauptsächlich die vielen neuen Events, Festivals und Musikreihen scheinen ein wirklich probates Mittel zu sein, der Masse an Musikhörern, speziell der "Traditionalisten", genug Motivation einzuhauchen um den Allerwertesten wieder hoch zu bekommen. Es lohnt sich ja auch, denn viele Veranstalter haben endlich begriffen, dass nur das Aufstellen von blinkender Hardware und das unspektakuläre "Posing" von großen Modularsystemen, vielleicht gerade noch für Hardcorefans ausreichend ist. Die breite Besucherfront will halt "sehen was sie hören" und wäre es ein Outing gegen "homofonischer Neigungen", dann würden wir sagen "und es ist auch gut so". Aber greifen wir nicht auf gestrige Aussagen von Hauptstadtpolitiker zurück, sondern werfen wir noch weitere Blicke auf die neuerliche Qualitäten der wiedererstarkten EM.

Wirft man eine Auge auf den EM-Kalender, so fällt auf, dass die Auswahl an Veranstaltungen noch nie so farbenfroh und abwechlungsreich war. Kaum ein Monat in dem man nicht durch die Bundesrepublik oder gerne auch mal über die Grenze nach NL fährt, um mal wieder auch ein paar ganz große Acts sehen zu können. Dabei ist auffällig, dass nicht nur die Qualität, sondern auch die Lust aufs Konzertieren gestiegen ist und so manch "ernste" Veranstaltung, einen neuerlichen Schub bekommen hat, weil man das ewige Wehklagen gegen ein gesundes "ich freu mich Euch/Dich zu sehen" eingetauscht hat. Auch der zweite Blick auf eine leicht aufsteigende Konkurrenz-Mentalität zwischen den Machern, kann als positives Element gesehen werden, denn nur wo Erfolg ist, ist zumeist auch der Konkurrenz-Gedanke anzutreffen. Nur wenn man etwas vorweisen kann, was ein positives Feedback bekommen hat, kann man sicher sein, es gibt noch einige dutzend Personen die es noch besser machen würden. Nein, nicht weil sie es wirklich könnten, sondern deshalb, weil es wirklich gut gewesen ist und man sich damit beschäftigt hat. 

Nein, es wäre wahrhaftig viel zu früh, nur von Erfolg zu sprechen. Wir wollen die (gut gefüllte) Dorf-Kirche z.B. in Repelen lassen und nicht zu übertriebene Euphorie raten, aber es tut sich etwas, was es all die Jahre nicht gegeben hat. Es ist etwas auf dem Weg, was nun nicht mehr aufzuhalten ist. Elektronische Musik wie wir sie mögen, und auch wenn sie jeder etwas anders interpretiert, sie hat begonnen wieder zu wachsen. Sogar auf einem Weg gehend, der nun nicht mehr nur auf einer "radiomoderierten 2 Stunden Schulter" liegt, sondern auf einer (noch) kleinen Szene, die es schon fast begriffen hat, dass es nur funktioniert wenn man auch miteinander klar kommt.
Dabei sollte man sowohl wohlwollend aber auch kritisch aus dem Ruhrgebiet in die anderen wachsenden Regionen schauen und sich freuen, dass auch an anderer Stelle gute Arbeit geleistet wird. Ebenso sollte sich manche neue Institution darüber im Klaren sein, dass bewährte Einrichtungen und Veranstaltungen auch weiterhin Besucherspendend fürs eigene Wachstum sind. Letztendlich gilt aber immer: Sich selbst nicht zu wichtig nehmen und nicht zuviel von sich selbst zu erzählen, dass tun die Anderen dann schon.

Vielmehr darf man sich auch über die eigentliche Musik erfreuen, die der Querschnitt der Szene produziert. Dabei ist aber die Kernfrage überhaupt, was ist eigentlich EM? Wer definiert die Musik und was gehört dazu und was nicht? Sind es die Labels und CD-Vertriebe? Nun, einen guten Überblick bekommt man, wenn man die Festivals- und Konzert-Veranstaltungen, die Podcast und Radiomacher, sowie die Webzines genauer betrachtet. Alles was hier angeboten wird, kann hinzugezählt werden. Sicherlich steht auch die etablierte Schallwelle-Preisverleihung für einen veritablen Querschnitt. Selbst zu den "Hoch-Zeiten", gab es kaum eine Preisverleihung, die auf einige tausend Stimmabgaben zurückgreifen konnte. Internet sei Dank!
Somit zeigt sich so langsam die Definition eines Marktes, der vielen Musikern eine Zugehörigkeit bietet und in der alte und neue Fans zielgerichteter ihre Musik wiederfinden, denn die Musik war und ist heute genauso gut wie vor 20 Jahren.
Allerdings brauchte auch dies seine Zeit, denn der zeitweilige und immer noch gegenwärtige Wahnsinn, Alles und jede noch so unbedeutende Note immer und überall zu veröffentlichen, wird nur von einer neuerlichen, selektiveren Auswahl des Konsumenten eliminiert. Nicht mehr jede CD wird "blind" gekauft und übersteht dem Anspruch, als gutes Produkt in die Analen eingegangen zu sein. Dies haben viele "ernsthafte" Musiker mittlerweile verstanden und sie orientieren sich an dem Prinzip, "Drei CDs im Jahr, könnten zwei zuviel sein". Sie müssen sich ja schließlich auch verkaufen. Auch in der EM gelten die wirtschaftlichen Gegebenheiten, selbst wenn es einige immer noch nicht glauben; Nur Qualität setzt sich langfristig durch. Da kann es manchmal besser sein, nur die besten 12 Songs der gesammelten 30 Stücke des Jahres auf CD zu bannen. Aber wir wollen ja nicht zum Ende wieder ins Tal der Tränen einjammern, sondern das sehr brauchbare Potential bewerten. Und dies ist schon lange nicht mehr so erfreulich gewesen wie in diesen Tagen, Wochen und Monaten.

Wenn Sie selbst auch Bestandteil dieser EM-Szene sind und sich nun fragen, warum den einiges (nicht) auf Sie zutrifft, dann gilt es die Frage zu stellen, was mache ich gerade falsch? Gehöre ich vielleicht zu den Musikern, die kaum noch CDs verkaufen? Dann sollte es eine Instanz geben, von der Sie vielleicht doch ernst gemeinte Ratschläge entgegen nehmen und die Sie nochmal zum Nachbessern für einige Wochen ins Homerecording-Studio schickt. Und warum lädt mich keiner als Musiker auf ein Festival ein? Vielleicht, weil sie zu Omnipräsent sind, oder die gebotene Qualität (noch) nicht (mehr) ausreichend ist, aber niemand traut es sich es Ihnen zu sagen? Wenn beides nicht zutrifft, einfach mal selbst was organisieren. Ist gar nicht so schwer! Allerdings sollte es etwas sein, was es vielleicht so noch nicht gibt. Eine tolle neue Lokation könnte da z.b. herhalten oder ein Konzept, welches verschiedene Kulturarten verbindet. Sowas scheint auch immer eine gute Option zu sein. Nicht nur planen, sondern einfach Machen! Und wenn mal was schief geht, ist es nicht so schlimm. Besucher sind sehr wohl sensibel und können zwischen misslungener Hochglanz-Kopie und ambitionierten Kleinstfestival mit kleinen Macken unterscheiden. Es sind oft die kleinen Veranstaltungen die einen besonderen Spirit bieten und dann wirklich begeistern können. Aber immer gilt, wer Besondere Aufmerksamkeit möchte muss auch Besonderes liefern. Aber wer weiß, vielleicht gelten wir ja später mal, als Pioniere der EM ;) Der kleine Streif am Horizont lässt wirklich darauf hoffen.


Stefan Erbe

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.