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Spielen wir uns den Regen weg!

Die Sommerzeit zwischen Juni und August ist Event-technisch immer eine etwas ruhigere Zeit.  Viele sind in Urlaub und die Veranstalter warten mit Konzerten lieber bis zum Frühherbst. Dafür ist der Sommer natürlich die Hochzeit der Grillfeste, und Winnies Schwingungen-Party ist eine besondere ihrer Art, kombiniert sie doch ein Grillfest mit reichlich Konzerten, und das alles im intimen und gemütlichen Rahmen von Winnies privaten Garten in Hamm.  Was vor Jahren als kleine bescheidene Privatfete begann, hat sich inzwischen zu einem Event mit einem halben Dutzend Acts und einer dreistelligen Besucherzahl entwickelt.

Letztes Jahr war insofern ein Höhepunkt in der Geschichte der Party, als dass nicht weniger als sieben Acts spielten.  Zusammen mit einem etwas aus den Fugen geratenen Zeitplan war die Party dann erst irgendwann nach vier Uhr morgens zu Ende - ein Ende, das nur wenige der Besucher noch miterlebt haben dürften.  Auch ich konnte letztes Jahr nicht so lange bleiben, hatte ich doch noch zwei Stunden Rückweg nach Aachen vor mir.  Dieses Mal habe ich mir ein Zimmer in einem Hotel in Hamm gebucht, das eine gute Viertelstunde von Winnies Haus entfernt liegt.  Es darf also auch dieses Jahr gerne wieder spät werden, darauf bin ich vorbereitet.

Ein erste Blick auf den Zeitplan zeigt aber, dass die Organisatoren auch von ihrer Seite aus nachjustiert haben: 'nur' noch sechs Konzerte, längere Umbaupausen und ein Zeitplan, der offiziell um halb zwölf endet.  Man wird sehen, wie gut er dieses Mal eingehalten wird, Frank geht in seiner Begrüßung vorsichtshalber erst gar nicht darauf ein.  Was er aber hervorhebt ist, dass die 'Möblierung' des Gartens erweitert wurde: Neben der stabil überdachten Bühne samt Zuschauerplätzen und Technik gibt es zwei neue Zelte, in denen weitere Besucher regensicher sitzen können und die auch Platz für CD-Stände bieten.  Uwe 'Brammi' Brameier zum Beispiel wird ein Eckchen in diesen Zelten auch nutzen, um live Modul303-Programm von der Party mit Berichten und Interviews zu machen.

Dass diese neuen Zelte eine gute Investition waren, hat schon der heutige Wetterbericht bestätigt: Die diesjährige Party wird nicht so wie sonst üblich von der Sonne verwöhnt, es ist bis für den frühen Abend Regen angesagt.  Der kommt dann auch so ...  Zwar sind es keine Wolkenbrüche und Sturzbäche wie in den letzten Tagen in Berlin, die - wie wir durch eine Meldung des 'Postillion' jetzt wissen - von einem aus dem Ruder gelaufenen Test der Sprinkleranlagen am neuen Flughafen herrührten, aber es regnet doch schon so, dass wetterfeste Jacken angesagt sind oder man sich schnelleren Schrittes zwischen den Zelten und dem Essen-Stand bewegt.  Dort gibt es nicht nur - wie bei Grillfesten üblich - Würstchen, Steaks und Salate, sondern auch einen großen Topf mit leckerem Chili, zubereitet von Frau Betzler.

Die 'Dramaturgie' eines Konzerttages mit mehreren Acts sieht ja üblicherweise vor, die großen und bekannten Namen am Ende des Tages zu plazieren; weniger Bekannte und Neulinge müssen quasi den 'Aufwärmer' fürs Publikum spielen.  Ein Neuling ist Sasa Tosic mit Sicherheit, schließlich hat er den diesjährigen Schallwende-Award als bester Newcomer gewonnen.  Aber er spielt genauso groß auf wie die 'alten Hasen': orchestral, wuchtig und ... leider viel zu kurz, lediglich eine halbe Stunde hat man ihm am heutigen Tage eingeräumt.  Mehr Material hätte Sasa ohne Probleme gehabt, ist doch seine Erstlings-CD 'Circles of Time' gerade fertig geworden.  Gern hätte er sie den Zuschauern direkt nach dem Konzert angeboten, leider haben die CDs nicht rechtzeitig das Presswerk verlassen.  Interessierte müssen sich einstweilen mit einer Vorbestellung und einem Download begnügen, mit etwas Glück sind die echten CDs dann in einer Woche auf dem Schallwende-Grillfest verfügbar.

Die Pause bis zum zweiten Act darf gerne kürzer ausfallen, denn alle Keyboards und Geräte von Promusic Hagen sind bereits aufgebaut.  Hinter Promusic Hagen steht Andreas Schwabedissen, den man schon letzten November als Mitstreiter bei BatteryDead im Bochumer Planetarium sehen konnte.  Heute sind die Rollen andersherum verteilt und und Christian Ahlers unterstützt bei dem "Schiller Cover Project", das auf dem Programm steht.  Ich muss ehrlich gestehen, allzuviel von Schiller kenne ich bisher nicht, und ich werde auch im folgenden nicht erkennen, welche Titel Schiller-Cover und welche Eigen-Kompositionen sind.  Das Gesamtbild ist auf jeden Fall stimmig: kraftvolle, fast bombastische Sounds, die durchaus an den vorigen Auftritt von Sasa Tosic anzuschließen wissen, ergeben eine kurzweilige Stunde, die ich einfach einmal so genieße.  Und auch diese Stunde ist schneller vorbei als man denkt.  Wir liegen aber noch voll im Zeitplan, so dass noch eine Zugabe drin ist, bevor Sasa, Andreas und Christian abbauen müssen und ich mich Kaffee und Kuchen widme.

Nach der Pause haben sich in der linken Hälfte der Bühne Thommy Betzler und Laurent Schieber alias Sequentia Legenda ausgebreitet - Laurent mit seinen Keyboards, Thommy mit seinen Drums.  Angekündigt ist das Programm der 'Extended', mehr als genug Material für die kommende Stunde, denn die 'Extended' ist eine Doppel-CD.  Nur spielt Laurent auf ihr solo, und das ist Berliner Schule in ihrer reinsten Form.  Wie wird ein Schlagzeug dazu passen?

Erfreulicherweise sehr gut.  Zwar hat Thommy ein paar Startschwierigkeiten mit seinen Drums und Frau Betzler muss kurz den Kochlöffel gegen den Schraubenzieher tauschen, aber danach findet er einen zu den Sequenzen passenden Takt und hält ihn die folgende fast halbe Stunde durch - wer will, darf komplett in 'The Approach' versinken.  Die Drums sorgen heute dafür, dass niemand dabei gänzlich entschlummert.  In den folgenden Titeln wird es noch sphärischer, Thommys Beiträge werden etwas gestreuter und punktueller, es ist nicht mehr der durchgehende Takt wie bei dem ersten Titel.  So oder so ist das aber ein starker Kontrast zu dem, was in den ersten beiden Konzerten lief. Fans der 'Berliner Schule' sind mit denen vielleicht nicht ganz so glücklich geworden, aber hier sind sie entschädigt worden. Merci beaucoup und wie Frank meint, muss Thommy bestimmt ein Kilo dabei abgenommen haben.

In den Gefilden der Berliner Schule bleiben wir auch beim vierten Künstler des Tages, Fryderyk Jona aus Mainz.  Erst seit wenigen Jahren in der Szene bekannt, hat er sich doch schon seinen festen Fankreis erobert.  Das dürfte daran liegen, dass es ihm auf Anhieb gelungen ist, der Berliner Schule seine eigenen, persönlichen Elemente hinzuzufügen, zum Beispiel die Kombination mit akustischen Instrumenten.  Die hat er heute leider nicht mitgebracht, vielleicht aufgrund des beschränkten Platzes auf Winnies Terrasse.  Eine elektronische Klarinette muss genügen, um die (durchgehend neuen) Titel zu begleiten, und das tut sie auch. Man sieht bei Fryderyk, dass er ein echter Musiker ist, der seine Instrumente beherrscht.  Die vier oder fünf langen Titel während der folgenden 75 Minuten variieren zwischen hypnotischen und meditativen Klängen, aber sie werden niemals langweilig und ziehen die Zuhörer in ihren Bann.  Und auch Himmel scheint sein Wohlgefallen zeigen zu wollen: die Regenwolken verschwinden und machen der Sonne Platz.  Frank meint, eine kleine Zugabe können wir uns noch gönnen, wir liegen ja immer noch so gut im Zeitplan!

Dass diese Party noch so gut im Zeitplan liegt, ist wohl auch den länger geplanten Umbaupausen zu verdanken.  Eine ganze Stunde ist jetzt Zeit, bis Ron Boots und seine Mitstreiter ihre Geräte aufgebaut haben müssen, und wieder wurde der Platz so bemessen, dass David Wright, der übernächste Act, daneben auch bereits loslegen kann.  Obwohl Ron einen beeindruckende 'Synthesizer-Burg' auffährt, kann er bereits deutlich vor Ende der Pause Vollzug melden.  Fangen wir also ruhig etwas früher als geplant an und seien wir dem Zeitplan voraus!

Ron Boots geht eher selten ganz solo auf die Bühne.  Heute hat er als Haupt-Mitspieler Frank Dorittke mitgebracht, der wieder sein wunderbares Gitarrenspiel beitragen wird.  Komplettiert wird das Trio von Harold van der Heijden, heute aber nicht mit seinem ganzen Schlagzeug, nur mit einem Wavedrum 'bewaffnet' sitzt er schon fast etwas eingequetscht hinten zwischen Ron und Frank - Winnies Terrasse ist halt nicht die größte Bühne.  Das holländisch-deutsche Trio hat es aber geschafft, sich so einzurichten, dass jeder seinen Teil spielen kann.  Was denn heute gespielt werden wird?  Ron kündigt ein 'unkalkuliertes Set' an. Was auch immer das genau heißen mag, man darf sich wohl auf bisher ungehörtes und unerwartetes freuen.

Ungewöhnlich ist bereits Franks Instrument: klar, eine Gitarre, aber dieses Mal keine elektrische.  Frank hat akustische Gitarre bisher nur in anderen Bands gespielt, aber nachdem Ron sie auch einmal hören durfte, war es wohl 'Liebe auf den ersten Ton' und es musste in diesem Konzert ein dafür passender Rahmen her.  Es beginnt chillig-mediterran, zusammen mit der Sonne, die jetzt am Himmel lacht, fühlt man sich an irgendeinen Strand in südlichen Gefilden versetzt.  Hat die Cocktail-Bar eigentlich schon geöffnet?  In Titel drei wechselt Frank dann wieder auf die wohlbekannte E-Gitarre, und damit wird auch die Gangart wieder etwas härter, inklusive der Basissequenzen.  In der darauf folgenden Ansage bedankt sich Ron erst einmal noch bei Fryderyk, dass er passend für ihren ersten Part die Sonne herausgespielt hat, dann verrät er, was im zweiten Teil kommen wird: erst ein Titel von Frank und was danach kommt ... das werdet Ihr schon sehen!

Die Stimmung wird in Titel vier erst einmal wieder etwas chilliger, aber (natürlich) jetzt mit mehr Gitarre von Frank.  In Titel fünf greift Frank wieder zur akustischen, und prompt sind wir wieder am Strand zurück.  Die Gewitter, die aus der Ferne grollen, kommen nur vom Sampler, der Rest des Abends wird trocken bleiben.

Zeit für den letzten Titel: Zurück zur E-Gitarre und - Moment, die ersten Takte klingen doch sehr vertraut!  Der erste Eindruck trügt nicht, was die nächsten zehn Minuten folgt, ist Franks Super-Heavy-Extended-Version von 'Purple Rain': eine große Verneigung vor dem leider viel zu früh und unnötigerweise verstorbenen Prince.  In diesen (denkwürdigen) Minuten gelingt es Frank, in seine Version die gleichen Emotionen hineinzupacken wie dem großen Vorbild.  Ron hatte ja gesagt, wir werden schon sehen.

Natürlich war dieser 'Purple Rain' das Finale des Auftritts, aber ohne eine Zugabe danach geht es natürlich nicht, alleine um wieder etwas herunterzukommen.  Was wäre besser dazu geeignet als ein weiterer kurzer Ausflug zurück an den Mittelmeerstrand, zusammen mit Franks akustischer Gitarre, in die sich Ron wirklich verliebt haben muss.

Die nächste Pause fällt etwas länger aus, als man es bisher in den Zweierblöcken gewohnt war: David Wright und Carys wollen noch einen Live-Soundcheck machen.  Dass das eigentlich nur eine Probe ist, merke zumindest ich aber zuerst gar nicht - sie legen mit Spiel und Wal-Gesang imitierenden Vocals los, wie ich es schon aus Repelen kannte.  Eigentlich klingt alles gut, aber plötzlich herrscht hektische Aktivität vor der Bühne, weil Carys Mikrofon noch nicht so funktioniert wie es soll.  Nach ein paar Minuten aber Daumen hoch und jetzt tritt sie auch ohne ihren Mantel auf.

Das Konzert beginnt mit 'Man and Machine', ihrem Beitrag zu der Festival-CD des diesjährigen E-Scape.  Nicht nur ich bin sehr beeindruckt von Carys an diesem Abend: gegenüber der 'Premiere' in Repelen hat sie sich deutlich weiter entwickelt, sowohl was die Prägnanz des Gesangs als auch ihre Ausdruckskraft auf der Bühne angeht: Spielt David einmal 'Walking with Ghosts' solo, versteckt sie sich hinter der Terrassentür als Geist im Dunkel. Einmal fotografiert sie ins Publikum zurück oder lässt den jungen Fotoreporternachwuchs mal ganz nahe heran.  Das beeindruckende Gestik- und Mimenspiel habe ich hoffentlich einigermaßen mit der Kamera einfangen können.

Auch wenn die Titel der 'Prophecy' den Hauptteil des Auftritts bilden, wechseln sie sich doch schön mit Tracks aus älteren David Wright Alben ab.  Davon könnte ich vermutlich noch viel genauer berichten, wenn ... ja wenn ich mich nicht irgendwann nach einer halben Stunde in einer anderen Ecke von Winnies Garten fest gequatscht hätte.  Die Gespräche und der Kontakt sind bei Winnie eben genauso wichtig wie die Musik, und man lässt es im Zweifelsfall so kommen wie es kommt.  Ganz besonders wenn kurz vor 11 Uhr abends am Wurstgrill die Angebotsphase beginnt und man schon mal zwei Würstchen zum Preis von einem bekommt.

Carys und David haben jedenfalls so viel Spiellaune, dass sie jeden über den Tag herausgeholten Zeitvorsprung locker wieder aufbrauchen - als die endgültig letzten Takte des Abends verklingen, ist es viertel vor Mitternacht.  Wer will, kann sich danach noch ein paar Samples der neuen Musik-DVD 'Ambient Joy' ansehen, und natürlich wird bei Winnie mit dem letzten Konzert auch nicht sofort der Kehraus gemacht.  Die Gespräche dürfen bei einem letzten Bier oder Würstchen noch etwas weitergehen. Die meisten machen sich jetzt aber doch auf den Weg nach Hause, der je nach Wohnort noch ein bis zwei Stunden mit dem Auto bedeuten kann.

Enttäuscht darüber, dass es dieses Mal nicht bis in den frühen Morgen geht, ist jedenfalls niemand.  Es zählt immer noch die Klasse und nicht die Masse, und die Qualität war an diesem langen Tag in Winnies Garten ohne Frage gegeben: Abwechslungsreiche und gute Acts, dazu wieder eine hervorragende Bewirtung und die bekannt lockere und angenehme Stimmung, der der anfängliche Regen nichts anhaben konnte.  Ein dickes Lob und Dankeschön an Winnie und seine Freunde, die Ende September auch noch den Electronic Circus auf die Beine stellen werden!  Dessen Lineup steht bereits fest, und der Kartenvorverkauf läuft auch bereits.  Man wird sich dort wiedersehen!

Alfred Arnold

Update: Das Konzert von David Wright und Carys begann nicht mit 'Man and Machine' sondern mit 'Dream Flight'.

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