Städte schreiben sich ja bisweilen zusätzliche Titel auf ihre Ortseingangsschilder. Meine Heimatstadt Aachen hat sich eine Weile darauf mit ihrer Exzellenz-Universität geschmückt, und ein Jahr lang durfte man sich auch 'Bundesligastadt' nennen. Das ist nun schon einige Zeit vorüber, andere Titel sind von größerer Dauer. Solingen mit seiner Tradition in der Messer-Herstellung begrüßt den Besucher als 'Klingenstadt'. Am heutigen Tage wäre der Titel 'Klingende Stadt' aber genauso passend. Warum? Es ist einmal wieder Zeit, den Güterhallen im Südpark einen Besuch abzustatten, wie jedes Jahr hat das Künstlerpack (so nennen sie sich selber!) ein Event mit Musik und Kunst auf die Beine gestellt. Das diesjährige Motto, unter dem elektronische Musik und Kunstwerke präsentiert werden, lautet 'Rondo' - eine aus der Musik geläufige Form, bei der sich ein wiederkehrender Abschnitt mit verschiedenen Gestaltungen immer wieder abwechselt. Übertragen auf die Veranstaltung: Bewährtes kombiniert mit Neuem, oder ganz verschiedene Konzerte, eingebettet in einen gemeinsamen Rahmen. Die angekündigten Acts - Rikeerik, Moogulator und Booth & Creek - hatte ich alle schon vorher einmal irgendwo gesehen, und ich wusste, dass es ein sehr abwechslungsreicher Nachmittag und Abend werden würde.
Der Eintritt ist der gleiche wie in den letzten Jahren, nämlich frei. Alle Musiker sind angereist, ohne eine feste Gage erwarten zu dürfen. Während der Antritte wird aber eine Spenden-Dose herumgereicht, die das Publikum nach eigenem Gusto befüllen darf.
Um die Vielfalt zu unterstreichen, findet auch jedes Konzert in einem anderen der Ateliers und Galerien statt. Den Anfang machen Rike Casper und Erik Matheisen, seit gut anderthalb Jahren als 'Rikeerik' unterwegs, in der Galerie Südpark. Dort ist neben etwa 20 Sitz- und mindestens ebensoviel Stehplätzen noch Platz für einen Tisch, auf dem Lambert mit seinem Spheric-Label einen CD-Stand aufgebaut hat. Bis zum Konzertbeginn ist es noch etwas Zeit, nach Neuheiten Ausschau zu halten oder sich von Lambert die eine oder andere Empfehlung geben zu lassen. Rike und Erik machen derweil noch ein paar letzte Proben. Besonders bei Erik habe ich immer wieder den Eindruck, dass er die Finger gar nicht vom Keyboard lassen kann und immer für eine spontane Improvisation zu haben ist. So auch, als Chef-Organisator Norbert Sarrazin erscheint und seine kurze Einführung halten will, aber - "wir haben noch etwas Zeit". Da Norbert selber nicht nur Fotograf und Künstler, sondern auch Musiker ist, juckt es ihn in den Fingern, Rikes Keyboard mal kurz 'anzutesten'. Erik zieht mit und die Einführung muss halt noch ein paar Takte warten.
Die Solinger Events verbinden wie erwähnt diverse Formen der Kunst, und vor dem Konzert kommt noch kurz die Dichtkunst zum Zuge. Die vier Jahreszeiten mit ihrem Wechsel passen auch perfekt ins 'Rondo-Thema', ein Gedicht "Die vier Liebeszeiten" in vier Strophen ist ihnen gewidmet. Wer es noch einmal nachlesen möchte, hat dazu später in der Galerie Amann Gelegenheit, dort ist es ausgehängt, jede Strophe unter einem von der Jahreszeit inspirierten Gemälde.
Nun soll aber endlich das Konzert von Rike und Erik beginnen. Als Hörer ist man natürlich immer begierig auf neues Material, und so hatte ich Rike vorher gefragt, ob man neben Stücken von der 'Contact' heute auch Neues hören würde. Die beiden haben wohl einiges in Arbeit, aber davon ist bisher nur eines so weit gereift, dass man es präsentieren kann. Das macht aber gar nichts, denn da hier auf beiden Seiten live gespielt wird, bleibt genug Raum für Variationen des Bekannten. Das demonstriert Erik gleich zu Beginn mit einem kleinen Solo, garniert mit einer Selbsteinschätzung: "Wir machen eher friedliche Musik". Ob man friedlich nun im Sinne von ambient und chillig verstehen will, oder einfach nur als Gegensatz zu aggressiv, bleibt jedem Einzelnen überlassen. In der folgenden guten Stunde ist jedenfalls der eine oder andere Titel mit einem guten Rhythmus dabei und weckt diejenigen wieder auf, die zwischenzeitlich ganz weggeträumt waren. Immer dabei sind aber schöne Melodien, es ist eine Musik, bei der einem warm ums Herz wird.
Knapp nach der Hälfte unterbricht Norbert kurz und lässt die Spendendose herum gehen. Dieses Mal ist es eine recycelte Blechdose, und er weist ausdrücklich darauf hin, dass klimpernde Münzen in der Dose zur gespielten Musik nicht wirklich passen würden. Also wandern durchweg Scheine in die Dose, und da nicht nur die Stühle alle besetzt sind, sondern fast noch die gleiche Menge Zuschauer weiter hinten stehen, ist diese am Ende viel besser gefüllt, als Rike und Erik es erwartet hatten.
Nach einem etwas wuchtigeren Stück ist es dann Zeit für die einzige Neuheit des Abends: eine sparsame Basislinie, dazu spielen vier Hände live. Dazu laufen Winterbilder, die den melancholischen Eindruck noch verstärken. Danach ist es auch schon Zeit für den Schlusstitel "Wind", aber auch das ist eine sehr sanfte (und warme) Brise. Die Zeit ist wie im Fluge vergangen. Die verbleibende Zeit bis zum nächsten Auftritt verbringen wir an Lamberts Stand, aber ausnahmsweise nicht mit seinem Angebot: Ein Mitarbeiter der Güterhallen schleppt einen ganzen Stapel alter Schallplatten an, die man von irgendwoher 'geerbt' hat - keine Elektronik, aber haufenweise Sachen, an die sich die älteren Semester noch erinnern können: Disco, Neue Deutsche Welle, Schlager - oh mein Gott, dafür hat man als Teenager mal geschwärmt, von dem hatte ich ein Poster im Kinderzimmer hängen! Das eine oder andere Stück Vinyl wechselt gegen eine Spende dann auch seinen Besitzer ...
Dann ist es auch schon Zeit, sich in die nächste Galerie zu begeben, denn um 18 Uhr läuft auf 'Gleis 3' der Moogulator ein. Auf dem Weg dorthin läuft mir Stefan Erbe über den Weg. Das ist doch einmal eine Überraschung! So wird dieses Event nicht nur mit Texten und Fotos, sondern auch mit dem einen oder anderen Interview dokumentiert.
Nun aber herüber zur Galerie 'Gleis 3'. Genug Zeit für ein paar einführende Worte von Norbert ist noch, dazu Danksagungen an die Sponsoren, die durch Spenden und Leihgaben so ein Event überhaupt erst möglich machen.
Mick Irmer alias 'Moogulator' legt sich noch kurz sein Handy als Stoppuhr zurecht, so als ob er Angst hat, beim Spiel die Zeit zu vergessen. Dann geht's los - am Flügel und mit dem IPad. Das hatte so ich nicht erwartet. Ich hatte Moogulator schon einmal vor ein paar Jahren in Dortmund gesehen, wo er die ganze Zeit an seinen Rhythmus- und Effektgeräten gewirbelt hat. Und auch dieses Mal ist die Piano-Einlage nur ein kurzer Einsteiger. Wie man diese (komplett live gespielte) Performance aus Rhythmen, gelegentlichen Sprachfetzen und Sound-Effekten am besten umschreibt? Meine Assoziation ist eine einstündige Session am Flipper. Man steigt mit ein oder zwei Linien ein, nach und nach wird der Mix immer wilder, bis ein harter Schnitt dem Titel ein Ende setzt - quasi ein 'Game Over', nächster Ball. Der Kontrast zu Rike und Erik könnte kaum härter sein, und auch nicht jeder findet daran Gefallen. Aber das Ganze hat schon ein treibendes Moment, vor allem auch schweißtreibend, nach einer halben Stunde laufen bei Mick die ersten Schweißtropfen. Nach einer weiteren halben Stunde ist es geschafft, Mick hält sein Handy mit dem Timer triumphierend in die Höhe - Punktlandung, fast genau eine Stunde gespielt. Auch Norbert ist begeistert: "So viel Einsatz habe ich noch nie erlebt!" Und auch in dieser Session bleibt die Spendendose alles andere als leer.
Natürlich bietet eine solche, eher experimentelle und improvisierte Darbietung reichlich Gesprächsstoff - Gespräche, über die man den nächsten Event-Termin glatt vergisst. Norbert Sarrazin macht ja selber auch Musik, und für 19.30 Uhr steht eigentlich die 'Hausmusik' an, wo er und seine Kollegen vom Künstlerpack ihre Musik präsentieren wollen. Lieber Norbert, tut mir aufrichtig leid, dass ich nicht dabei war, das passiert mir nächstes Jahr nicht wieder!
Und so geht der Weg direkt vom Gleis 3 in die Galerie Peter Amann, zum dritten Act und Höhepunkt des Tages: Booth & Creek aus England. Dass sich zwei Engländer auf den nicht gerade kurzen Weg nach Deutschland machen, und auch noch zu einem Konzert ohne Eintritt und ohne Gage. Ein Act von der Insel ist eine echte Novität in den Güterhallen!
Phil Booth und Jez Creek sieht man auch ansonsten nicht so oft in Deutschland, dementsprechend groß ist der Andrang. Die Galerie Amann ist randvoll, alle Stühle sowieso besetzt, und zwei Dutzend Zuschauer stehen weiter hinten in der Galerie zwischen den ausgestellten Kunstwerken, vielleicht mit nicht so guter Sicht auf die Bühne, dafür aber um so besserem Zugang zur Bar. Und es ist auch noch etwas Zeit, sich vor dem Konzert an der Bar zu 'versorgen'. Irgendeine Leitung muss noch gefunden werden, da der Raum ansonsten ja als Kunstgalerie dient, ist die Verkabelung ziemlich fliegend. Dann aber ist es soweit, und Phil Booth setzt seine Melone auf - ein Zeichen dafür, dass es los gehen kann.
Dem Prinzip 'Abwechslung' bleibt sich die Veranstaltung treu. Nach den harten, experimentellen Sounds vom Moogulator geht es wieder einen Schritt zurück - aber nicht zurück in Richtung sanfterer und melodiöser Sounds, sondern in die Zeit, als elektronische Musik an analogen Synthies komplett mit der Hand gemacht und auf der Bühne improvisiert wurde. Phil Booth und Jez Creek spielen in der folgenden Stunde ein einziges, durchgehendes Stück, getragen von Klangflächen und Sequenzen, so wie der Fan klassischer 'Berliner Schule' es liebt, mit einem spacigen Einschlag. Der Beamer zeigt dazu passend nur eine langsam wechselnde Bildershow, irgendwelche hektische Animationen würden den Ausflug in den Kosmos eigener Vorstellungen auch nur stören.
Viel zu schnell ist dieser Trip zu Ende, nach einer guten Stunde lupft Phil seine Melone und nimmt mit Jez den wohlverdienten Applaus (und die Spendendose) entgegen. Das soll es schon gewesen sein? "We want more!" erschallt es aus dem Publikum. Die prompte Gegenfrage: "Ambient or sequencing?"
Im Endeffekt kann man Booth & Creek beides entlocken, es werden also zwei Zugaben gewährt, bis die Veranstaltung kurz vor 10 Uhr ihr Ende findet. Für ein Event mit mehreren Konzerten ist das durchaus ein frühes Ende. Das kann man noch nutzen, um den Abend gegenüber im Restaurant 'Stückgut' ausklingen zu lassen, oder (wie ich) sich auf den etwas längeren Heimweg zu machen. Das letzte Bier des Abends kommt dann aus dem heimischen Kühlschrank und bietet Gelegenheit, den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren zu lassen - ein Tag, an dem das Solinger Team wieder einmal gezeigt hat, was man auch ohne großes Geld alles auf die Beine stellen kann. Fortsetzung garantiert!
Alfred Arnold