So häufig, wie ich auf Konzerten bin, könnte der eine oder andere meinen, ich müsste doch wirklich schon alles gesehen haben. Das ist mitnichten so: regelmäßiger EM-Event-Besucher bin ich erst seit vielleicht sechs oder sieben Jahren, und es gibt diverse 'große Namen', die ich bisher nie live gesehen habe, und wohl auch nie mehr sehen werde. Zumindest einen Namen werde ich an heutigen Mittwoch von dieser imaginären Liste streichen können: Jean-Michel Jarre.
Praktischerweise habe ich es dieses Mal auch nicht all zu weit, mit seiner Electronica-Tour 2016/2017 macht Jean-Michel Jarre nach Berlin auch in Bonn Station. Der KUNST!RASEN in Bonn, zwischen Post-Tower und Rhein gelegen, bietet Platz für etwa 8000 Besucher. So viele werden es an diesem Abend nicht werden, aber 1800 Karten im Vorverkauf sind trotzdem schon eine ganz andere Größenordnung, als man sie aus Oirschot, Detmold oder Bochum kennt. Und sie bringt auch eine ganz andere Form der Organisation mit: Am Einlass überprüfen Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma nicht nur die Tickets, sondern auch das, was die Besucher so bei sich haben: Taschen sind nur bis zur Größe eines DIN A4-Blattes erlaubt (ein solches muss auch als Vergleich herhalten), lange Regenschirme und mitgebrachte Gertänkeflaschen überhaupt nicht. Immerhin gibt es eine kleine Garderobe, so dass man nicht zum Auto zurück muss, um das wegzubringen, was nicht mit hinein darf.
Auch Kameras sind offiziell nicht erlaubt: Gegen die allgegenwärtigen Smartphones haben die Veranstalter solcher Konzerte natürlich längst den Kampf aufgegeben, aber großformatige Spiegelreflexkameras sind nur bei Reportern mit passendem Ausweis erlaubt. Mich beschleicht ein etwas mulmiges Gefühl, in welche Kategorie wohl meine Sony-Kompaktkamera in der Jackentasche fallen wird. Im Endeffekt stellt sich die Frage aber nicht und wir werden ohne Abtasten durchgelassen.
An der nächsten Station bekommen Inhaber eines Tickets für den Bühnen-nahen Bereich ein zusätzliches Bändchen, damit die Ordner schneller erkennen können, wer in diesem separat abgetrennten Bereich hinein darf und wer nicht. Am linken Rand sind die Zelte mit dem VIP-Bereich aufgebaut; wer das anderthaltfache bereit war zu zahlen, ist zwar nicht unbedingt näher an der Bühne, kann sich bei Regen aber in eigenen Zelten unterstellen und hat festen (Holz-)Boden unter den Füßen.
Alle nicht-VIP-Besucher testen jetzt erst einmal aus, wie weit der Regen über den Tag den Grasboden aufgeweicht hat. Der Boden ist noch größtenteils fest, aber stellenweise schon etwas matschig. Woodstock-Feeling kommt also nicht auf, aber diejenigen, die in Gummistiefeln gekommen sind, haben auch nicht völlig falsch gelegen.
Der Beginn des Konzerts ist für 20 Uhr angekündigt, von Monsieur Jarre ist aber noch nichts zu sehen. Stattdessen soll ein DJ mit seinen eigenen Mixes dem Publikum erst einmal einheizen, so wie man es bei Rockkonzerten von Vorbands kennt. Ob ihm das gelingt? Nun ja, die gebotenen Tracks sind durchaus flott und fetzig, aber eigentlich sind ja alle gekommen, um Jean-Michel Jarre zu sehen. Zumindest mein Eindruck ist, dass die Gespräche vor der Bühne eher weitergehen, als dass man sich bereits von diesem Vorprogramm in den Bann ziehen lässt. Es ist halt für jeden Musiker schwierig, mit so einem Namen im Rücken zu bestehen. Applaus gibt es am Ende des Vorprogramms natürlich doch.
Dieses Vorspiel ist nach einer guten halben Stunde vorbei und das DJ-Pult wird wieder herausgerollt. Geht's jetzt los? Nein, etwas müssen wir uns noch gedulden, und hören 'Waiting for Cousteau' aus der Dose. Ziemlich genau um 21 Uhr kommt aber Leben in die PA und Bässe, die einem die Hosenbeine schlottern lassen, zeigen an, dass es jetzt wirklich so weit ist.
Nicht nur in die Lautsprecher kommt jetzt richtig Leben, auch der Sinn des halbtransparenten Vorhanges wird nun klar - es ist eine Videowand. Deren einzelne Streifen lassen sich unabhängig voneinander hin- und herbewegen. Mal verschleiern sie den Blick auf die Akteure auf der Bühne, mal fahren sie zur Seite und geben den Blick frei.
In der Mitte und erhoben auf einem Podest ist - natürlich - Jean-Michel Jarres 'Arbeitsplatz'. Im Laufe des Konzerts wird er ihn noch als seine 'Küche' bezeichnen, in Anspielung darauf, dass er die erste 'Oxygene' seinerzeit zu Hause in der Küche eingespielt hat. Die Vorspeise, die dem Publikum aus dieser Küche gereicht wird, ist das 'Part 2' der 'Electronica 2' - durchaus eine passende Wahl, ist dies doch die 'Electronica Tour', und gleichzeitig der einzige Track auf diesem Album, der solo und nicht in einer Kooperation entstanden ist.
Nach dem Einsteiger greift Jean-Michel Jarre erstmal zum Mikrofon, das wird er im Verlaufe des Konzerts noch mehrfach tun. Eine persönliche Ansprache des Bonner Publikums wird selbstverständlich gerne gehört, dazu erwähnt er noch, dass er großer Fan eines 'Bonner Kindes' wäre, nämlich Ludwig van Beethoven.
Das restliche Programm in den folgenden gut zwei Stunden ist bunt gemischt und geht quer durch die Jahrzehnte seines Schaffens: Absolute Klassiker und Ohrwürmer wie von der 'Oxygene' und 'Equinoxe' sind genauso dabei wie 'Zoolokologie' aus den 80ern. Den größten Anteil haben natürlich aktuelle Titel von den beiden Electronica-Alben und der 'Oxygene 3'. Auch die Klassiker aus früheren Jahrzehnten sind neu arrangiert: Wer vielleicht gehofft hatte, bei ihnen für einige Minuten sanft wegschweben zu können, wird etwas enttäuscht gewesen sein: Auch die sind mit neu gemischt und mit fetten Beats unterlegt, für die links und rechts auf der Bühne zwei Schlagzeuger sorgen. Das ganze Konzert ist in diesem Sinne ein einziger Ritt auf der Überholspur, weder sich noch den Hörern gönnt Jean-Michel Jarre dabei eine größere Atempause. Was uns dabei wirklich beeindruckt, ist wie er dieses Tempo auch körperlich noch mitgehen kann - ich wäre sehr froh, wenn ich mit 68 Jahren auch noch derart auf der Bühne herumwirbeln könnte.
Damit es ansonsten auch abwechslungsreich bleibt, unterbricht er die Performance gelegentlich für einen Titel, zu dem er noch etwas im Speziellen sagen möchte. Einer davon ist 'Exit', den er zusammen mit Edward Snowden in dessen Moskauer Exil aufgenommen hat. Gerade bei diesem Titel ist doch diskutiert worden, ob es Jean-Michel Jarre mit seinem Engagement ernst ist oder ob es dabei doch eher um die PR geht. Ich glaube ihm sein Engagement inzwischen, und das nicht nur, weil er vorher erzählt, dass seine Mutter bei der Resistance war. Seine Zusammenarbeit mit den Pet Shop Boys ist ihm auch einige Worte wert. Die sind am heutigen Abend zwar nicht in persona dabei, flimmern aber doch während 'Brick England' überlebensgroß links und rechts von ihm über die Videowand.
Selbige Videowand kommt auch regelmäßig als Monitor zum Einsatz, damit Zuschauer weiter hinten den Star auch mal in mehr als dem Briefmarkenformat sehen können. Einmal klemmt sich Jean-Michel Jarre die Kamera an seine Brille und erlaubt so einen Blick auf seine Instrumente - neben modernem Gerät ist auch ein modularer Synthesizer dabei. Was ein Handy auf einem der Keyboards zu suchen hat? Wir werden es noch sehen. Diverse andere Male zeigt die Videowand ihn, wie er mit Gitarre oder Keytar vorne auf der Bühne agiert. Hatte ich schon erwähnt, dass ich froh wäre, wenn ich das mit 68 auch noch könnte?
Im letzten Titel kommt ein Instrument zum Einsatz, dass Jean Michel Jarre seinerzeit bekannt gemacht hat: die Laserharfe. Er meint, sie könnte trotz eines Überziehers bei den Regengüssen am Tag etwas nass geworden sein, und entschuldigt sich für Probleme im Voraus. Aber sie funktioniert ohne Probleme und liefert mit den restlichen Laser-Projektionen einen spektakulären Abschluss dieses Konzerts. Inzwischen ist es auch dunkel genug, dass die ganzen Lichteffekte ihre volle Wirkung entfalten.
Sollte jetzt schon Schluss sein? Natürlich nicht, um eine lautstark geforderte Zugabe kommt er nicht herum. Die beginnt mit dem Motiv der Equinoxe auf der Videowand, wobei aber die Zuschauer allesamt Smartphones anstelle Ferngläsern vor den Augen haben - eine dezente Anspielung an jene Konzertgänger, die mehr damit beschäftigt sind, ein Konzert mit dem Handy aufzunehmen als es zu genießen. Und jetzt erfahren wir auch, wofür das Smartphone da ist, das er an seinem Platz liegen hatte - es wird erst einmal zurückgefilmt, bevor er mit der Zugabe beginnt. Dazu bittet er alle, doch die Taschanlampen ihrer Smartphones anzumachen. In früheren Zeiten hätten Fans vielleicht Wunderkerzen geschwenkt, aber so ändern sich halt die Zeiten. Ganze vier Tracks werden noch in der Zugabe spendiert, und auch die Keytar kommt noch einmal zum Einsatz.
Nach dem vierten Titel ("one for the road") ist dann aber wirklich Schluss. Große Verbeugung in alle Richtungen, und kaum haben die Musiker die Bühne verlassen, werden sie auch schon von einem guten Dutzend Technikern abgelöst, die mit dem Abbauen beginnen - und das mit einem Tempo und einer Organisation, die beeindruckt. Jeder scheint genau zu wissen, für was er zuständig ist, es würde mich nicht wundern, wenn nach einer Stunde schon alles wieder im LKW verstaut und auf dem Weg zur nächsten Stadt ist. Das warten wir aber nicht ab, ein kurzer Abstecher am T-Shirt-Stand muss noch sein und dann geht es auf den Weg nach Hause, der für uns erst einmal 20 Minuten Fußweg bis zum Parkhaus einschließt - vorbei am Post-Tower, der mit den bunten Bildern auf seiner Fassade immer noch ganz auf Jean-Michel Jarre eingestellt ist. Es ist jetzt kurz nach elf, bis Aachen ist es noch eine gute Stunde mit dem Auto. Auch wenn ich am nächsten Tag wieder arbeiten muss und direkt ins Bett gehen sollte, kann ich es noch nicht - die Eindrücke meines ersten JMJ-Konzerts sind noch zu frisch. Und so quietschfidel, wie ich ihn heute erlebt habe, wird es nicht das letzte gewesen sein. Neue Projekte sind ja angeblich bereits in der Pipeline.
Alfred Arnold