Es ist Herbst, und langsam wieder die Zeit, sich mehr drinnen als draußen zu beschäftigen: Auch wenn der "goldene" Oktober noch den einen oder anderen warmen Tag zu bieten hat, werden die Tage unverkennbar kürzer und die Feiertage sind auch nicht mehr in allzu weiter Ferne. Zeit zur Einkehr? Wenn ja, warum dafür nicht einmal ein paar besinnliche und ruhige Stunden in einer Kirche verbringen?
Kirchen veranstalten regelmäßig auch so etwas wie einen "Tag der offenen Tür", nur heißt das ganze hier "Nacht der offenen Gotteshäuser" und alle Kirchen in einer Stadt oder Gemeinde beteiligen sich daran. An diesem Samstagabend sind Kirchen in Duisburg geöffnet, darunter auch St. Ludger im Stadtteil Neudorf. In diesem imposanten Bau wird heute Abend Torsten Abel auf der Bühne - oder besser, neben dem Altar - spielen. Es wird ein Solo-Konzert werden, etwas was er seit einiger Zeit nicht mehr gemacht hat. Gemeinschafts- und Band-Projekte wie Sine Amplitude oder die Sternentraumreise standen in der letzten Zeit auf seiner Agenda. Organisiert und vermittelt wurde dieses Konzert übrigens von Andreas Pawlowski, der nicht nur hier bei EMpulsiv schreibt, sondern auch in der Kirchengemeinde aktiv ist.
Die Kirche öffnet ihre Pforten pünktlich um 20 Uhr, angekündigt sind vier halbstündige Sessions bis Mitternacht. Der Altar ist noch für Erntedank dekoriert, und hinter ihm findet sich die andere Attraktion des Abends, an deren Aufbau die Gemeinde-Mitarbeiter mit Sicherheit stundenlang gearbeitet haben: das Labyrinth des Lebens. Hunderte Teelicher symbolisieren zum einen das Kreuz als Ziel, stecken andererseits aber auch den Weg ab, auf dem man das Ziel erreicht. Und dieser Weg ist - wie im echten Leben - alles andere als geradlinig. Auch wenn man das Ziel an Anfang direkt vor Augen hat, bewegt man sich immer wieder von ihm weg, um es zum Schluss auf Umwegen doch noch zu erreichen. Ein paar Feuerlöscher stehen neben diesem Labyrinth griffbereit, sie werden an diesem Abend aber nicht gebraucht. Auch während Torsten spielt, wird dieser Weg des Lebens beschritten werden.
Die erste Session fängt nicht direkt um 20 Uhr an, unter anderem deswegen, weil Torsten dann akustisch in Konkurrenz zu den Glocken von St. Ludger treten müsste. Während das Abendgeläut noch läuft, lässt uns der Pfarrer auf die Empore mit der Orgel. Eine enge Wendeltreppe führt dorthin, und reicht auch noch bis in den Glockenturm. Der bleibt uns aber verwehrt, in erster Linie aus Sicherheitsgründen. Ein falscher Tritt im Dunkeln, und es würde dort oben gleich einige Stockwerke herunter gehen. Aber auch so ist der Blick von der Empore auf das Hauptschiff, den Altar und das Labyrinth ein sehr schöner - den ich leider nicht so recht festhalten konnte, dafür fehlt es meiner Kamera an Brennweite ... also wieder die Treppe herunter und Torsten von nahem lauschen, der inzwischen mit der ersten Session begonnen hat.
Nun ist Torsten Abel bei Sine Amplitude eher für rockige Klänge bekannt, und auch wenn Sine Amplitude schon in Kirchen gespielt hat - in den heutigen Rahmen würde das nicht so ganz passen. Neue Tracks hat er für diesen Abend auch nicht im Gepäck, aber Torsten ist schon viele Jahre in der elektronischen Musik unterwegs und hat seine Fähigkeiten in diversen Sparten der EM bewiesen. Ein ambient-chilliges Set sollte sich daraus auf jeden Fall zusammenstellen lassen.
Auch wenn die Kirche von einigen bunten Lichteffekten erhellt wird, bleibt Torsten selber lieber im Dunkeln und ist fast nur als Silhouette zu sehen. Aus dieser Dunkelheit heraus gestaltet er eine absolut relaxte erste Session, wie zum Wegträumen geschaffen oder dabei durch das Kerzen-Labyrinth wandeln. Es kommen auch immer wieder Besucher von draußen herein, verweilen einen Moment, und ziehen dann weiter. Das ist völlig in Ordnung, so ist das Konzept so einer Nacht. In der zweiten Hälfte gesellen sich noch ein paar zarte Rhythmen dazu, bis der erste Teil mit den Kommentar "Kurzes Päuschen" endet.
Nach dem Päuschen werden wir daran erinnert, dass wir uns in einer Kirche befinden: Zu Torstens Klängen liest eine Stimme aus dem Off aus der Bibel vor, genauer gesagt aus der Genesis: von der Schöpfung der Erde bis zu Adam und Eva. Ob das eine Anspielung darauf sein soll, wie einer von Adams und Evas Söhnen hieß - die Frage bleibt offen. Nach dieser Bibel(viertel)stunde legt Torsten wieder einen etwas flotteren Gang ein, und beschließt die zweite Session mit "Stadt aus Licht". Offensichtlich hat Torsten Hunger, denn die Pause bis zur dritten Session ist eine längere, und es zieht ihn zum Buffet. Damit ist nicht gemeint, dass die Deko am Altar zum Verzehr freigegeben wäre - in einer Ecke haben die Pawlowskis einen Tisch mit Snacks aufgebaut, an dem man sich gegen eine Spende bedienen kann, so wie Torsten heute auch für einen Obulus ins Körbchen spielt.
Teil drei eröffnet mit Glockengeläut, dieses Mal jedoch aus den Lautsprechern und nicht aus dem Kirchenturm. Sobald das verklungen ist, leiten Naturgeräusche in eine längere Sequenz - offensichtlich fällt die dritte Pause aus, es geht direkt weiter: Kinderstimmen? Natürlich, das ist "Children's Eyes" von der "Hypnotized"! Auch auf diesem Rock-Album findet sich ein Track, der zu diesem Abend passt. Weiter geht es mit dem großen Traum der kleinen Sterne aus der "Sternentraumreise", und dann ist es auch schon fast wieder vorbei "Einen kleinen spukigen habe ich noch", damit verabschiedet Torsten uns in die Nacht.
Selbige ist noch jung, denn es ist noch nicht einmal elf Uhr. Die Kirche bleibt selbstverständlich weiter geöffnet, man kann aber auch gerne zu anderen weiter ziehen. Torsten zieht auch weiter: In drei Wochen wird er schon wieder live aktiv, nämlich auf dem Dinosaurier-Treffen in Bocholt. Dort werden wir wohl wieder den "anderen Torsten" erleben, der gerne einmal die Fetzen fliegen lässt.
Alfred Arnold