Das "Schiff" Tangerine Dream, wie es Edgar Froese in seinen Memoiren einmal bezeichnet hat, ist nun schon seit einigen Jahren ohne ihn unterwegs, ohne dabei untergegangen zu sein. Nichtsdestotrotz stehen seine Ideen und Grundsätze immer noch unsichtbar hinter all dem, was Bianca sowie Thorsten, Hoshiko und Ulrich unter diesem "Markenzeichen" tun - Grund genug, die Tradition einer Gedenkveranstaltung um seinen Todestag herum fortzuführen.
In diesem Jahr jährt sich Edgars Tod zum vierten Mal. War es vor zwei Jahren noch das Foyer des Berliner Schauspielhauses, in dem Edgar mit einer Ausstellung, Konzerten und einer Lesung aus seinen (damals noch nicht erschienenen) Erinnerungen gedacht wurde, geht der Weg dieses Mal zwar auch nach Berlin, aber nach Kreuzberg, genauer gesagt ins "Ballhaus Rixdorf". Diese Location hatte Tangerine Dream schon früher für Veranstaltungen genutzt, ich bin heute aber zum ersten Mal hier. Der Ort ist unauffällig: Würde nicht ein großes Schild über den Eingang zu einem Innenhof darauf hinweisen, man würde es wohl kaum finden. Auf die Veranstaltung selber weist zur Straße hin nur ein DIN A4-Poster hin, und auch das ist nach kurzer Zeit wieder verschwunden - hier hat wohl ein Fan und Poster-Sammler zugegriffen.
Eine großartige Werbung vor Ort ist aber auch gar nicht erforderlich: Die 150 Tickets waren lange im Vorfeld ausverkauft. Der Einlass ist für 19 Uhr vorgesehen, schon eine Weile davor bildet sich vor dem Eingang eine Traube. Das Januar-Wetter ist kalt und regnerisch und lädt nicht dazu ein, noch einen kurzen Spaziergang durch den "Kiez" zu machen. Besser wartet man unter dem Vordach und tauscht sich währenddessen ein wenig aus.
Ganz pünktlich ist der Einlass nicht, weil die eingeladenen Musiker wohl noch in Ruhe zu Ende proben wollen - Thorsten und Hoshiko sind erst kurz nach 18 Uhr mit dem Taxi gekommen. Direkt auf den ersten Blick bemerkt man, warum die Gäste-Zahl so limitiert war: Ort der Feier ist nicht der große Ballsaal selber, sondern eine Cocktail-Lounge im Erdgeschoss. Die hat zwar eine großzügige Bar, und Dank belegter Brötchen in größeren Mengen wird auch niemand an diesem Abend hungern, aber viele werden Speise, Trank, Musik und Kunst im Stehen genießen müssen - die aufgestellten Stühle reichen vielleicht für die Hälfte der Besucher.
Diese "Verdichtung" ist gewünscht, man erfährt während des Abends, dass dieses Mal bewusst ein intimerer Rahmen gewählt wurde. Die Kunstausstellung fällt dementsprechend bescheidener aus, es reicht aber noch für zwei Stellwände mit Fotos der 2018er-Tour. Ein Merchandise-Stand darf ebenso nicht fehlen, neben CDs, T-Shirts und Edgars Buch ist der Kaffeebecher mit Tangerine Dream-Logo die Neuheit des Abends.
Ebenso dicht gepackt wie der Saal ist das Programm: Bianca kündigt in ihrer Begrüßung neben vier Konzerten und einer Lesung auch wieder eine Tombola an. Jeder zahlende Gast hat beim Einlass eines der Lose bekommen - die haben vor zwei Jahren noch Geld gekostet, dafür war der Eintritt frei.
Etwas Zeit wird den Besuchern noch gelassen, bis das erste Konzert beginnt. Für den Opener des Abends hat man Paul Frick eingeladen. Wer diesen Namen bisher noch nicht kennt (das schließt den Autor mit ein): Paul Frick kann einerseits eine klassische Musikausbildung vorweisen, andererseits ist er aber auch als DJ "unterwegs". Und diese Vielseitigkeit spielt er in der folgenden halben Stunde auch aus. Paul beginnt mit einem Solo an Klavier - zwar rein akustisch, in seinem improvisierten Stil aber doch an das erinnernd, was TD in den 70ern gemacht hat. Danach wechselt er nahtlos an seine elektronischen Effektgeräte und baut sich im Stile eines Live-Loopings eine Sequenz zusammen. Nachdem die einmal läuft, verwendet er sie als Basis für weitere Improvisationen am Klavier - um schlussendlich das gesampelte Piano in die elektronischen Klänge mit einzubauen. Dieser Mix wandelt sich im Finale von "70er-Jahre-Klängen" zu einem respektablen Dance-Track. Eine solche Spannweite an Klängen und Stilen erlebt man nicht oft, und als Einsteiger war das für die Hörer sicher nicht die leichteste Kost. Edgar hätte daran aber sicher seinen Spaß gehabt, das Publikum auf diese Weise von den ausgetretenen Pfaden wegzuleiten. Es ist den Weg bereitwillig mitgegangen, niemand hat den Raum verlassen, und Paul Frick bekommt reichlich Applaus für diese Leistung.
Auf Konzert Nummer eins folgt nach einer Pause Nummer zwei: jetzt ist Thorsten Quaeschning an der Reihe, und zwar solo, weder als Tangerine Dream noch als Picture Palace music. Er hat an diesem Abend mit Abstand den größten Instrumenten-Park mitgebracht: das große modulare Doepfer-System ist ebenso am Start wie der Moog und diverse weitere Keyboards. Gleich zu Beginn schnallt Thorsten sich die Gitarre um. Es wird aber nicht rockig, der Einstieg ist sphärisch. Solche Passagen sind meist kühl und minimalistisch angelegt. Thorsten zeigt aber, dass es auch anders geht: warm und dicht, keine Spur von einer Winterlandschaft. Das trägt natürlich nicht ewig, und so wandeln sich die Flächen nach und nach zu einem Sequenzen- und Rhythmus-Gewitter, wie man es schon lange nicht mehr erlebt hat. Thorsten wirkt dabei wie ein Dirigent oder Maschinist, der ständig zwischen den Geräten hin- und herspringt: ab und zu wird ein klassischer TD-Sound eingeflochten, und Thorsten scheint gelegentlich selber überrascht zu sein, was dabei herauskommt.
Überrascht oder nicht, das Ergebnis ist auf jeden Fall mitreißend bis fantastisch - Thorsten erhält stehende Ovationen, und Bianca muss die Forderungen nach einer Zugabe mit dem Hinweis beantworten, es würde ja noch mehr kommen - Thorsten wird im Finale noch einmal mitspielen. Hätte man einen Mitschnitt dieses Konzerts im Anschluss auf USB-Stick angeboten, er hätte wohl reißenden Absatz gefunden. Eine Aufnahme existiert zwar, sie wird auf absehbare Zeit aber erst einmal ins Archiv wandern - wer hier und heute nicht da war, hat's eben nicht erlebt.
Ein wichtiger Grund, dass die Zugabe ausfällt: das dicht gepackte Programm. Nach einer Pause ist Zeit für die Lesung aus Edgars Autobiographie "Force Majeure", die an so einem Abend nicht fehlen darf. Die Erinnerungen an ein ganz besonderes Konzert stehen auf dem Programm: Das berühmt-berüchtigte Konzert in der Kathedrale zu Reims. Die Band hatte 1974 gerade den Durchbruch geschafft und lockte über 5000 Besucher in den Sakralbau. Dumm nur, wenn dieser eigentlich nur für ein Drittel davon ausgelegt ist. Die Zustände waren chaotisch, die Luft Cannabis-geschwängert und der Veranstalter war ob der Überforderung mehr oder weniger "auf Tauchstation" gegangen. Was also tun? Das Konzert abzusagen, hätte vermutlich einen Tumult und eine Katastrophe ausgelöst, also musste es durchgezogen werden. Der Zustand, in dem die Kirche danach war, wurde der Band und nicht dem Veranstalter angelastet, und Papst Paul VI. erließ einen Bann, der es TD auf ewig verbot, jemals wieder in einem katholischen Gotteshaus zu spielen. Dieser Bann gilt wohl bis heute, hinderte aber zum Beispiel die anglikanische Kirche nicht daran, gleich darauf Tangerine Dream zu einer England-Tour einzuladen. So wurde die Band unversehens Objekt eines Jahrhunderte alten Kirchenstreits.
Das Pult bleibt für den nächsten Programmpunkt im Fokus, jetzt steht darauf der Zylinder mit den Losen. Drei Preise sind zu verteilen, darunter als Hauptgewinn ein großformatiges, von Edgar geschaffenes Gemälde. Fortuna zeigt sich an diesem Abend salomonisch: die Preise gehen nach England, Dänemark und Deutschland. Ein kleiner Haken bei dem Hauptgewinn: Für den Transport muss der Gewinner selber sorgen. Wünschen wir ihm, dass das einen Meter im Quadrat messende Gemälde die Reise mit der U-Bahn wohlbehalten übersteht.
Jetzt ist die Zeit für den ganz besonderen Gast des Abends gekommen: bevor Hans-Joachim Roedelius sich an Klavier und Tablet setzt, hat auch er noch eine kleine Rede vorbereitet. So wie Bianca zu Anfang ihre Worte an Edgar gerichtet hatte, so tut er es jetzt auch: Er erinnert an die "Anfangszeit" der späten 60er-Jahre und die gemeinsame Zeit im und um den Zodiak-Club. Edgar und er gingen danach musikalisch unterschiedliche Wege, und er war um so erfreuter, dass Edgar noch zu Lebzeiten die Weichen dafür gestellt hatte, dass TD musikalisch jetzt wieder zu den alten Ideen und Wurzeln zurückgekehrt ist - gerade für diesen Satz erntet er spontanen Applaus.
Sein Konzert wird so, wie ich ihn schon in Bochum oder Detmold erlebt hatte. Von der "Opulenz" her ist es das genaue Gegenteil zu Thorstens Auftritt: absolut reduziert und minimalistisch. Einzelne Klänge werden isoliert in den Raum gestellt und entfalten ihre Wirkung. Es ist schon beeindruckend, wie man mit so wenig eine solche Intensität erreichen kann. Der ganze Saal ist sich dieser Intensität bewusst: es herrscht eine schon fast andächtige Stille - so versunken, dass Hans-Joachim Roedelius das Ende der Performance explizit ansagen muss, um den Beifall entgegenzunehmen und die letzte Pause einzuleiten.
Danach steht nämlich das letzte Konzert des Abends an, und dafür kommt Hoshiko Yamane auf die Bühne, die fast den ganzen Abend gewartet hat. Das große Finale steht an, in dem sie mit Thorsten, Hans-Joachim und Paul Frick austesten wird, was sich zu viert entwickeln lässt. Kurzer Zuruf von Thorsten an Hans-Joachim: "Du gibst die Tonart vor!" Was dann aber als Ton zurück kommt, findet er "schwer zu erkennen". Also überlässt man vielleicht ganz galant der Dame die Führung? So wird der gewohnt-sphärische Einstieg von Hoshikos Violine getragen. Und wie man es auch sonst von Tangerine Dreams Improvisationen kennt, nimmt die Sache nach wenigen Minuten Fahrt auf: Mal stören sirenenhafte Sounds die Harmonie, mal greift Thorsten mit verzerrten Gitarrensounds ein. Auch Hans-Joachim bekommt für seine Klangobjekte Raum, er bleibt seinem Stil treu und geht dabei nicht unter.
Mehrmals glaubt man in der folgenden Stunde, die Improvisation hätte ihr Ende gefunden, aber dann hat doch wieder jemand eine Idee, auf deren Basis sich das ganze fortführen lässt. Das eigentlich geplante Ende um 23 Uhr ist lange überschritten, als dieses letzte Konzert des Abends endet und Bianca ihre Schlussworte spricht. Wer weiß, vielleicht entwickelt sich ein Event zu Ehren Edgar Froeses um diese Jahreszeit zu einer Dauereinrichtung - mit den Jahren weniger, um seines Todes zu gedenken, als der Dinge, die er für die Entwicklung der elektronischen Musik geleistet hat. Edgar selber hat immer den musikalischen Stillstand gehasst und darüber nachgedacht, was man an neuen Dingen tun könnte; eine Art Mini-Festival, auf dem auch jüngere EM-Musiker eine Plattform finden und das Brücken zu Philosophie und anderen Kunstformen schlägt, wäre absolut in seinem Sinne gewesen.
Alfred Arnold