Wie lange ist es jetzt eigentlich her, dass ich zum ersten Mal nach Oirschot gefahren bin? Ich erinnere mich gar nicht mehr genau, aber ein Jahrzehnt könnte es schon bald her sein. Der E-Day im Frühjahr und E-Live im Herbst waren all die Jahre fast so unverrückbare Termine im Kalender wie Ostern und Weihnachten. Seit einem knappen Jahr konnte man aber zumindest nicht mehr sicher sein, ob sie weiter in "De Enck" stattfinden würden, nachdem eine Schließung des Kulturzentrums im Raum stand. Der Stadtrat von Oirschot hatte nach Protesten und einer Unterschriften-Aktion im letzten Jahr noch einmal einen Aufschub bis Ende der Theatersaison 2018/2019 gewährt. Es konnte also gut sein, dass es zum letzten Mal sein würde, als ich ich am Mittag des 6. April 2019 "De Loop 67, Oirschot" als Ziel ins Navi eintippte. Ron Boots hatte sich im Vorfeld noch nicht zur weiteren Zukunft geäußert, außer dass er wohl Alternativen in der Hinterhand hätte, aber am liebsten in "De Enck" bleiben möchte.
Wohlbekannt hingegen war natürlich das für den E-Day 2019 geplante Programm, und Ron konnte mit Thorsten Quaeschning als Haupt-Act noch einmal ein echtes Zugpferd nach Holland holen. Ein Ausfall wegen zu schlechten Kartenvorverkaufs stand nie zur Debatte, der Saal war bereits zu zwei Dritteln ausverkauft, als er verkünden konnte, dass Ulrich Schnauss es jetzt doch einrichten konnte, zusammen mit Thorsten in Oirschot zu spielen. Aber auch das restliche Programm konnte sich sehen lassen: RHEA aus Belgien, Spyra & Roksana aus Deutschland und Stephan Whitlan von der Insel, die sich mit ihrem Austritt aus der EU nach wie vor etwas schwer tut.
Angekommen in Oirschot, ist erst einmal "Business as usual" angesagt: Man reihe sich in die Schlange der Wartenden ein, die nacheinander ihr Armbändchen bekommen, nachdem der Name auf der Liste abgehakt wurde. Das erledigt übrigens Rons Tochter, die ihn erst kürzlich zum zweiten Mal zum Großvater gemacht hat.
Die Bändchen werden erst bei Einlass in den Konzertsaal kontrolliert. Zugang zum Foyer, dem Cafe und den CD-Ständen bekommt man prinzipiell auch ohne sie. Aber es reist natürlich niemand nach Oirschot, nur um an den CD-Ständen entlang zu gehen, auch wenn diese alleine sehenswert wären: traditionell nimmt der Groove-Stand die komplette Kopfseite des Foyers ein. Über ein halbes Dutzend Neuerscheinungen werden dort heute angeboten, darunter sowohl Alben von Künstlern, die heute live spielen werden, als auch Neuveröffentlichungen lange vergriffener oder nie auf CD erhältlicher Alben. Im Gegenzug für einen knapp dreistelligen Betrag wandert ein kompletter "Satz" in meinen Rucksack - neues musikalisches Futter für die nächsten ein oder zwei Wochen. Neben Groove Unlimited sind noch Manikin Records, Wool-E aus Belgien und Spheric Music mit Ständen vertreten.
Spheric-Chef Lambert Ringlage hat auch ein "altes Schätzchen" gehoben: Sein Album "Dimensions of Dreams" von 1995, schon seit einer Weile vergriffen und nur noch schwer zu bekommen, hat er neu gemastered und um einen Bonus-Track ergänzt. Auf die Frage, ob das für die Aufnahme in die Schallwelle-Kandidatenliste reicht, ein klares Ja als Antwort: es ist neues, bisher unveröffentlichtes Material enthalten.
Die an diesem Abend auftretenden Künstler haben natürlich ihre eigenen Stände, sowie mit "Nothing but Noise" eine belgische Formation, die jedem Besucher gleich bei der Anmeldung einen kostenlosen Sampler schenkt. Niemand geht also heute mit leeren Händen nach Hause, selbst wenn man wider Erwarten nichts an den CD-Ständen findet.
Neben den vier Konzerten im großen Saal sind ein oder zwei kleinere Konzerte im oberen Raum eine weitere Tradition: Hier haben Musiker die Chance, auch einmal etwas in einem intimeren Rahmen zu präsentieren, sei es, dass man sich noch nicht auf die große Bühne traut oder es noch nicht für ein "großes Konzert" reicht. Eine Treppe höher, findet man den Raum heute komplett verhängt und abgedunkelt. Volker Rapp präsentiert dort heute seine aktuellen Alben, begleitet von Videos, die erst im abgedunkelten Raum so richtig wirken. Als ich hereinkomme, sieht man Bilder eines Kunst-Museums, genauer gesagt, der Eremitage in St. Petersburg. Volker hat das gleichnamige Album mehr oder weniger spontan am iPad "im Hotelzimmer" eingespielt. Alleine, wo ist Volker selber? Die wenigen Keyboards vor der Leinwand sind verwaist. Ich erfahre, dass er die Geräte fernsteuert und sich dafür im Hintergrund hält. Das ist ein etwas ungewöhnlicher Ansatz, erwartet man bei einem Konzert doch immer den auf der Bühne agierenden Künstler, aber Volker ist für solche unkonventionellen Ideen bekannt. Unkonventionell und schwer einzuordnen ist auch die Musik selber; sie verwebt experimentelle mit melodischen Elementen, und auch ein klassisches Zitat darf nicht fehlen.
Immerhin kommt Volker am Ende des virtuellen Gangs durch die Eremitage nach vorne. Noch ein Titel? Eigentlich gerne, aber ein kurzer Blick auf die Uhr verrät, dass es jetzt an der Zeit wäre, sich in die Schlange vor dem großen Saal einzureihen. Weitere Auftritte sind ja für die große Pause nach dem zweiten Konzert geplant.
Nach Einlass und Ergattern eines guten Platzes beschaut man die wieder einmal beeindruckend mit Geräten voll gestellte Bühne des großen Saales. Ich zähle insgesamt sechs "Arbeitsplätze", vor die Ron Boots für seine erste Einführung tritt. Bevor er auf den ersten Act eingeht, beantwortet er noch die Frage, die vielen auf der Seele liegen dürfte: Wie geht es mit "De Enck" weiter? Kurz gesagt: E-Day und E-Live bleiben in Oirschot. Stadt und Betreiber des Kulturzentrums haben sich geeinigt, zu welchen Bedingungen es weitergehen kann. Die Konditionen für Veranstalter blieben die gleichen, aber das Parken könnte in Zukunft Geld kosten: Gut für mich, meint Ron, aber für Euch ... damit werden wir auch noch zurecht kommen, genauso mit dem Tee, der um einen Groschen teurer geworden ist, wie mein Begleiter in der Pause anmerkt.
Eine besondere Begrüßung haben heute natürlich die Gäste aus England verdient. Der Brexit ist ein Thema, das sich im Moment kaum umschiffen lässt. Ron gibt sich heute als stiller Fan von Theresa May zu erkennen, sorgt sie mit ihren ständigen Bitten um Verschiebungen doch dafür, dass er immer noch recht problemlos zu Konzerten auf die Insel fahren kann - genauso wie seine britischen Gäste nach Oirschot kommen können.
Nun aber zum ersten Act des Tages, und der kommt nicht von der Insel, sondern aus dem Nachbarland Belgien: Mark de Wit alias RHEA ist sicher vielen als Organisator von Cosmic Nights bekannt, er ist aber genauso gut an den Köpfen und Reglern seiner Synthesizer. Was er dabei kreiert, trägt den Hörer weit, weit weg, meist ins Universum, oder aber auch ganz tief ins eigene Innere. "Iceworlds" ist der Titel des heutigen Auftritts, und das könnte zur Abwechslung ja auch mal ein ganz irdisches Thema werden. So ganz vom Weltall kann Mark dann aber nicht lassen: Die Visuals zeigen eine Eislandschaft, aber aus der Satelliten-Perspektive. So fliegen wir über den Eisplaneten, während Mark seine Kompositionen entwickelt. Und das passiert genauso kontrolliert, entspannt und beinahe meditativ, wie die Musik selber ist: erst nach und nach kommen die Sequenzen dazu und komplettieren den hypnotischen und versunkenen Gesamteindruck - man muss schon ein wenig aufpassen, nicht ganz wegzudösen.
Die Reise durch die Eiswelt ist zweigeteilt, und im zweiten Teil kehrt Mark wieder zu reinen Flächen und atmosphärischen Klang-Gemälden zurück, während wir über die virtuelle Eislandschaft jetzt im Tiefflug gleiten. Obwohl eigentlich noch reduzierter, ist der "Hypnose-Effekt" jetzt deutlich weniger ausgeprägt. Das ist auch gut so, denn das Publikum sollte ja am Ende wach sein, um Mark Applaus für den Opener des Tages zu spenden. Er ist wohlverdient für diese Performance, die fehlerlos war und wie aus einem Guss gewirkt hat.
Die folgende Pause bis zum zweiten Konzert ist traditionell eher kurz, zu kurz um im kleinen Saal im ersten Stock ein Konzert zu beginnen - man muss sich die Zeit mit einem Kaffee, ein paar klassischen holländischen Snacks oder an den CD-Ständen vertreiben. Oder man plant schon für die nächsten Monate: da Oirschot eines der am besten besuchten Festivals in der Szene ist, finden sich auf den Tische immer reichlich Flyer mit Veranstaltungen.
Nach der Pause hat Ron erst einmal eine schlechte Nachricht. Sie betrifft die Konzerte von Volker Rapp im ersten Stock: aufgrund dringender familiärer Angelegenheiten musste Volker Rapp seine Zelte abbrechen, und ein Ersatz lässt sich derartig kurzfristig natürlich nicht auftreiben. So werden diejenigen, die in der großen Pause Richtung Pizzeria oder Frittenbude gehen, ausnahmsweise einmal nichts verpassen, wenn auch aus einem nicht so erfreulichen Grund. Ron wäre aber nicht Ron, wenn er nicht gleich im Anschluss wieder eines seiner Späßchen machen würde: haben wir unseren speziellen Gast aus England eigentlich schon gebührend begrüßt? "John, I can see your head shining!" ruft er und deutet in Richtung von John Dysons Platz, wohl auf dessen nur noch spärlich von Haaren bedecktes Haupt anspielend. Und um noch einen darauf zusetzen: "It says Brexit!" - dieses Thema ist bei Ron heute wohl "gesetzt".
Nun aber zum nächsten Act des Tages, wir bleiben auf dem "Kontinent" und reisen von Belgien nach Berlin weiter, seit einiger Zeit die neue Wahlheimat von Wolfram Spyra. Wie immer kommt er nicht alleine, sondern mit Roksana Vikaluk. Und schon sitzt Ron der Schalk wieder im Nacken: Leider werden beide in dieser Form heute zum letzten Mal auftreten. Äh, ja, wie? Nein nein, Konzerte wird es weiter geben, Wolfram und Roksana beabsichtigen lediglich, ihren Familienstand in der nächsten Woche zu ändern - sie werden heiraten. Ach so, uff und natürlich herzlichen Glückwunsch!
Wie beginnt also das letzte Konzert von Wolfram und Roksana ohne Trauschein? A capella und unplugged: Vor der Bühne stehend, stimmen sie fingerschnippend eine Swing-Nummer an, bis Wolfram siedend heiß einfällt, dass dies doch eigentlich ein Festival für elektronische Musik wäre ... also fix an die Keyboards!
Wer Spyra und Roksana schon einmal live in den letzten Jahren erlebt hat, der wird aber wissen, dass die kommende Stunde alles andere als ein klassisches elektronisches Konzert werden wird. Gerade Roksana wird ihm mit ihrer Stimme, die in ihrer Kraft an Lisa Gerrard erinnert, ihren ganz persönlichen Stempel aufdrücken. Dafür liefert ihr Ehemann in spe die Grundlage: es sind Sequenzen, wie ich sie in dieser Form von keinem anderen Musiker kenne: analog, machtvoll und für sich genommen schon beinahe hypnotisch. Heute fallen sie noch vielschichtiger als sonst aus, ich habe beinahe das Gefühl, in einem akustischen Karussell zu sitzen. Und Roksanas einzigartiges Minenspiel ist auch wieder da, dem man sich kaum entziehen kann.
Auf Allegro folgt üblicherweise Andante, so hatte ich es mal im Musikunterricht gelernt, und so ist es hier auch. Die Sequenzen verstummen nach gut zwanzig Minuten, Roksanas Piano-Spiel tritt in den Vordergrund und die Stimmung wird meditativer. Danach hat ihre Stimme einen Soloauftritt, wobei "solo" die Sache nicht ganz trifft: Im Stile eines Live-Loopings nimmt sie sie auf, transponiert sie und spielt sie in einer Schleife wieder ab, um dazu dann selber wieder live zu singen - ein vielstimmiger Chor, der aber doch wieder nur aus einer einzigen Stimme besteht. Dass ihre Stimme ein ganz besonderes Instrument ist, das hat Roksana Vikaluk an diesem Abend wieder unter Beweis gestellt. Es mag nicht nach dem Geschmack des "puristischen" EM-Fans sein, ihre Auftritte sind aber nichtsdestotrotz immer etwas ganz Besonderes. Nicht ohne Grund haben andere EM-Musiker wie Johann Geens oder Remy schon mit Roksana gearbeitet.
Im letzten Teil wird es wieder elektronischer, die Sequenzen sind wieder da, aber anders als zu Anfang. Sie klingen jetzt minimalistischer und metallisch-kühl, so wie man sie von Spyras letzten beiden Studioalben "Staub" und "Dunst" kennt. Und wieder werden sie von Roksanas Stimme begleitet, oder eine längere Strecke von ihr auf der Harmonika. Spyras und Roksanas Konzert war an diesem Tag aus EM-Sicht mit Sicherheit das ausgefallenste und "exzentrischste", aber Wolfram bleibt sich treu. Ausgetretene oder "kommerzielle" Pfade sind nicht sein Stil, er kehrt lieber zu den Wurzeln analoger Elektronik zurück und benutzt dies als Basis für seine ganz eigenen Wege.
Mit einem bleibenden Eindruck - und den besten Wünschen an das Ehepaar in spe - geht das Publikum in die Pause. Ein weiteres Konzert im ersten Stock wird es wie gesagt nicht geben. Ein Einkauf in den Supermärkten neben "De Enck" ist bei vielen Besuchern aus Deutschland auch ein fester Programmpunkt, findet man doch hier die eine oder andere Sache, die in Deutschland nicht oder nur schwer aufzutreiben sind. Als Aachener habe ich das einfacher, für mich liegt der nächste holländische Supermarkt in Fahrrad-Reichweite, und so geht es für mich zusammen mit Freunden in die Pizzeria "Il Tavolino" in der Nähe des Markes. Diese Pizzeria ist ein beliebtes Ziel in der großen Pause, deshalb empfiehlt sich eine vorherige Tischreservierung. Auch Vorbestellungen werden gerne entgegengenommen, so dass man nicht mehr so lange auf Pizza, Nudeln oder Lasagne warten muss.
Erfahrungsgemäß dauert der Pizzeria-Besuch doch so lange, dass man - wieder in "De Enck" angekommen - am besten gleich Tasche und Jacke an der Garderobe abgibt und sich vor dem Eingang zum großen Saal anstellt. Schon seit einigen Jahren werden die Besucher gebeten, aus feuerpolizeilichen Gründen keine Taschen oder Jacken mit in den Saal zu nehmen. Ron erwähnt aber, dass man es heute nicht ganz so genau nehmen würde, weil der Saal nicht ganz ausverkauft ist. Wenn sich jemand partout von seinen gerade gekauften CDs nicht trennen will, dann würde man heute ein Auge zudrücken.
Auf der Bühne sieht es jetzt deutlich übersichtlicher aus, die Instrumente der der ersten beiden Konzerte sind in der großen Pause weggeräumt worden. Früher wurden die auf Podesten stehenden, hinteren Aufbauten nach vorne gezogen, aber das wird inzwischen nicht mehr getan - vielleicht, weil es bei so einer Aktion vor ein paar Jahren einen "Unfall" gegeben hat und alles wieder aufgebaut werden musste. So hat Ron viel Platz, als er den ersten Act des Abends vorstellt, und der kommt jetzt von der "Insel". Stephan Whitlan ist kein Unbekannter, in den letzten Jahren hat er diverse Male zusammen mit Ron Boots und seinen Freunden live gespielt. Stephan kann aber auch eine respektable Solokarriere vorweisen, gerade liegt mit "Swarf" ein neues Album von ihm am Groove-Stand - das wird auch noch an diesem Abend eine Rolle spielen. Aufbau-technisch hat er sich dafür entschieden, dem Publikum eher den Rücken zuzudrehen. Dafür ist er nicht von seinen Keyboards umgeben, und kann zwischen den Tracks kurz nach vorne ans Mikrofon gehen und ein paar Kommentare abgeben.
Der Einstieg ist so, wie man es von Stephan kennt: melodisch, verspielt und virtuos. Ron hat ihn nicht ohne Grund vorher als einen der besten Keyboarder bezeichnet, mit der Einschränkung, dass Stephan bisweilen etwas "whacky" wäre - aber gehört das nicht bei diesem Völkchen dazu? Ein Spleen, den Stephan auf jeden Fall pflegt, ist ein Gläschen Guiness auf der Bühne. Ich hatte es zu Anfang schon vermisst, aber als wir nach dem ersten Track das vernehmliche Zischen einer Bierdose hören, wissen wir, dass mit Stephan alles in Ordnung ist. Es steht jetzt ein Titel von "Second Site" an, und Stephan klagt bei der Gelegenheit sein Leid über gewisse Keyboards, deren Wartung und Instandhaltung ihn ein kleines Vermögen kosten würde. Ohne sie geht es aber nicht, denn das folgende Stück, das seine "längste Note" enthält, kann er ohne sie nicht spielen. Es bleibt nicht bei dieser einen Note, der ganze Titel kommt sehr getragen herüber, ganz im Gegenteil zum Einsteiger.
Das Wechselbad der Gefühle setzt Stephan mit dem dritten Track fort, denn jetzt geht es zum eingangs erwähnten Album "Swarf". Auf dem zeigt sich Stephan von einer gänzlich anderen Seite: weniger melodisch, dafür experimenteller und retro-analog. Den passenden modularen Synthesizer hat er auch heute dabei, und in der der folgenden Viertelstunde zeigt er, wie er "das Monster zähmt", wie er sich ausdrückt. Es wehrt sich, und das Ergebnis ist rauh und kantig, aber auf seine Weise auch einzigartig und unwiederholbar. Und dass es seinen Widerstand nicht restlos aufgegeben hat, merken wir daran, dass eine Spur gar nicht aufhören will zu laufen - Stephan muss erst den richtigen Knopf finden, bevor er sich ungestört zum nächsten Programmpunkt äußern kann.
2019 ist ein besonderes Jahr - die erste Mondlandung ist ein halbes Jahrhundert her. Wir werden in diesem Jahr noch das eine oder andere Event zu Ehren dieses Jubiläums sehen, und auch Stephan lässt diesen Aufhänger heute Abend nicht links liegen. Er wird einen Titel spielen, der den Test der Zeit bestanden hat: Pulstar von Vangelis, aber natürlich in seiner ganz eigenen Version, die noch fetter daherkommt, als das Original es schon ohnehin ist. Und das leitet ein Finale ein, dem er einfach nicht widerstehen kann, wie Bierglas-schwenkend verkündet: das große Stephan-Whitlan Medley der beliebtesten Science-Fiction-Themen. Von Dr. Who über Star Trek bis zu Popcorn ist fast alles dabei, wieder in dem furiosen und verspielten Stil, wie er das Konzert begonnen hat. Die Frage nach der Zugabe erübrigt sich danach, auf so ein Finale kann man nichts mehr darauf setzen: Verbeugung, Applaus und oh Wunder - sein Bierglas ist noch gar nicht leer. Soll er den Rest hinter der Bühne genießen, während wir den Saal für die letzte Pause verlassen.
Die fällt länger als geplant aus, Thorsten Quaeschnings Konzert verzögert sich um eine gute Viertelstunde. Die Bühne ist jetzt ganz übersichtlich, nur noch die Aufbauten von Thorsten und Ulrich stehen hinten in den Ecken. Dass Ulrich Schnauss am heutigen Abend dabei ist, war eine kleine Überraschung, die Ron erst vor anderthalb Wochen "aus dem Sack" gelassen hatte: ursprünglich hieß es, er hätte am Vortag noch einen Gig in Spanien und es wäre ein zu großes Risiko, ihn noch "einzufliegen". Irgendwie hat es aber geklappt, und auch Ulrichs Equipment ist am Platz - beim letzten E-Day wäre sein Solo-Konzert daran ja beinahe gescheitert.
Mit Ulrich und Thorsten auf der Bühne ist natürlich naheliegend, welches Material in den folgenden anderthalb Stunden zu Gehör kommen wird: Mit "Synthwaves" haben beide im letzten Jahr den Schallwelle-Preis für das beste Album geholt, und ein leises Rauschen und Plätschern im Hintergrund lässt auch schon "Rain on Dry Concrete" anklingen. Die Reihenfolge der Tracks ist eine andere als auf dem Album, aber Thorsten und Ulrich spielen wirklich alle Titel von "Synthwaves", inklusive der beiden Bonus-Tracks, die man nur auf der limitierten 10-Inch Vinyl-Scheibe bekommt. Pausen dazwischen gibt es nicht, die einzelnen Stücke werden variiert und gehen nahtlos ineinander über. Alleine so ein Programm von anderthalb Stunden fehlerlos und ohne Hänger auf die Bühne zu bringen, ist eine Leistung, die Respekt verdient. Man sieht (und hört) daran, wie gut Ulrich und Thorsten miteinander harmonieren.
Die komplette Tracklist von "Synthwaves" wäre eigentlich alleine ein Konzert für sich, aber es ist noch lange nicht vorbei - Thorsten greift zur Gitarre und läutet den zweiten, komplett frei improvisierten Teil des Konzerts ein. Wem so ein Ablauf von TD-Konzerten in der letzten Zeit bekannt vorkommt, der liegt nicht völlig verkehrt. Auch hier wogen eine gute Dreiviertel Stunde Sequenzen und Flächen hin und her, aber heute ein ums andere Mal von einem soliden Bassfundament oder Rhythmus untermauert - der 80er-Jahre Stil der "Synthwaves" zeigt auch hier noch seinen Einfluss. Man hat stellenweise den Eindruck, dass Thorsten und Ulrich einfach kein Ende finden können, immer wieder kommt eine neue Sound-Idee auf und wird ausgearbeitet.
Ziemlich genau gegen Mitternacht haben Thorsten und Ulrich dann doch jede Note gespielt, die sie heute spielen wollten - welch ein Finale für einen E-Day, von dem man zu Anfang noch befürchten konnte, dass er der letzte an diesem Ort ist. So ist es nicht gekommen, die Show geht weiter. Mit dem guten Gefühl, dass dies nicht zum letzten Mal in Oirschot passieren wird, wähle ich "Heimatort" in meinem Navi. Wer schon einmal notieren möchte: E-Live 2019 am 19. Oktober - natürlich in "De Enck" in Oirschot.
Alfred Arnold