Unter den jährlich stattfindenden EM-Festivals nimmt Cosmic Nights einen besonderen Platz ein. Während die Organisatoren anderer Events versuchen, mit einem Mix verschiedener Stilrichtungen für jeden Besucher etwas anzubieten, hat Mark de Wit einen klaren Schwerpunkt gelegt: Elektronische Musik, die der Berliner Schule folgt, gerne auch mit einem kosmisch-spacigen Touch.
Die andere Besonderheit: "Cosmic Nights" findet jedes Jahr an einem anderen Ort statt. Mal ist das Planetarium Brüssel, mal ist es die Maschinenhalle einer ehemaligen Kohlenzeche, und mal ist es ein Gotteshaus. Die Sint-Baafs-Abtei in Gent, zu der in diesem Jahr eingeladen wurde, fällt - im weiteren Sinne - in diese Kategorie. Mit einer ersten Erwähnung im sechsten Jahrhundert gilt sie als der älteste Ort der Stadt, und liegt recht zentral, unweit des Bahnhofs. Gent nimmt für sich in Anspruch, eine besonders Fahrrad-freundliche Stadt zu sein. Das bedeutet umgekehrt für den per Auto anreisenden Besucher, dass die Parkplatzsuche etwas länger dauern kann. Ich habe Glück, direkt am "Voorhutkai" ist eine der wenigen Parkbuchten noch frei. Sechs Euro für ein Parkticket wandern in den Automaten, neben dem schon ein Schild den Weg zu "Cosmic Nights" und der ehemaligen Abtei weist.
Mönche wandeln dort schon seit Jahrhunderten nicht mehr, und von außen wirkt das einzig davon übrig gebliebene Gebäude so, als wäre es danach in einen Dornröschenschlaf gefallen - man wundert sich fast, dass es hier überhaupt einen Stromanschluss geben soll. An der Tür hängt das Programm des heutigen Abends. Mit drei Konzerten zu jeweils einer Stunde ist es für "Cosmic Nights Verhältnisse" eher ein kurzes. Das Lineup - mit RHEA, Ruud Rondou und Marc Creemers allesamt ehemalige Mitglieder von Purfoze - ist aber nicht ohne Bedacht gewählt, denn dieses "Cosmic Nights" soll das letzte seiner Art sein. Für den Abschluss hat sich Mark de Wit also ein eher kleines, aber feines Set zusammengestellt, anstatt es noch einmal richtig "krachen" zu lassen.
Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb der Andrang heute noch etwas größer als sonst ist. In der Mitte des Saals und ehemaligen Refters sind vor dem Platz, an dem Mark den Abend eröffnen wird, ca 50 Stühle aufgebaut, und an den Längsseiten stehen noch einmal je zwei Reihen davon - mit Steinplatten im Rücken, die vielleicht einmal Grabplatten gewesen sind, und dahinter wiederum das über Tausend Jahre alte Mauerwerk. Nach und nach füllen sich die Plätze, nicht wenige haben noch ein leckeres belgisches Bier von der Bar mitgebracht. Für mich als "Autofahrer" ist das leider tabu - ich hätte den Besuch doch besser mit einem Kurzurlaub in Gent verbunden, Sightseeing dann eingeschlossen.
Eine gut Tradition bei Cosmic Nights ist der Moderator: jeder Künstler bekommt vor seinem Konzert eine ausführliche Ankündigung, einschließlich eines Abrisses seiner musikalischen Vita. Das wäre bei RHEA gar nicht erforderlich, denn das ist der Name, unter dem Mark de Wit selber auftritt. Bevor Mark loslegt, ergreift er auch noch einmal das Mikrofon und bedankt sich für die Möglichkeit, das finale "Cosmic Nights" an diesem ganz besonderen Ort veranstalten zu dürfen. Und Mark wäre nicht Mark, würde sein Konzert nicht auch in irgendeiner Form Bezug auf den Spielort nehmen. Dunkel gerät der Einstieg, so dunkel und finster, wie man sich das Mittelalter gemeinhin vorstellt (was es nie war, aber das ist eine andere Geschichte). Wummernde Bässe füllen den Saal, begleitet von einem gelegentlichen Plätschern. Das ist reines Kopfkino, zu diesen Klängen kann sich jede(r) selber ausmalen, wie es in früheren Jahrhunderten aussah, als diese Abtei noch in Benutzung war. Das Wummern wird massiver. Man hat den Eindruck, Mark würde die Eigenfrequenzen des Raumes suchen (und finden) - Vorsicht, der ist angeblich renovierungsbedürftig, und soll doch wenigstens für diesen Abend noch stehen bleiben! Als nächstes hören wir das Knistern von Flammen und ein virtueller Sturm zieht über uns hinweg. Ob das jetzt die Wikinger waren, oder die Schleifung des Baus durch Karl den Fünften, das darf man sich aussuchen. Ein Ticken verdeutlicht die Zeit und die Jahrhunderte, die in diesen Mauern stecken, und ganz zum Schluss taucht wie aus dem Dunkel eine helle Sequenz auf - quasi als Schlusspunkt sind wir wieder glücklich in der Jetzt-Zeit angekommen. Dreißig Minuten Pause nach dieser beeindruckenden Geschichtsstunde sind mehr als angebracht. Noch ein Bier? Die ersten Sorten sind bereits ausverkauft.
Dreißig Minuten Pause sind auch genug Zeit, alle Stühle umzudrehen, denn die Musiker der nächsten beiden Konzerte haben sich ganz am anderen Ende des Saales eingerichtet. Wer eben noch in der ersten Reihe saß, findet sich auf einmal in der letzten wieder, und umgekehrt, eine originelle Lösung, damit jeder Besucher mal einen guten und mal einen weniger guten Platz hat.
Die einführenden Worte gehen jetzt in die rechte Ecke, wo Ruud Rondou sich eingerichtet hat - neben den Instrumenten sind auch Zimmerpflanzen und eine kleine Büste aufgestellt. Bevor sich Ruud auf das ausgelegte Fell setzt und loslegt, wagt er noch einen kleinen geschichtlichen Exkurs - nicht in die Geschichte des Spielorts, sondern die von Purfoze und den Konzerten in Brüssel, was er als "Locus Delicti" bezeichnet. Einen lateinischen Namen hat er für das, was er jetzt aufführen wird, auch gewählt: "Portum Ultimo". Gent ist also so etwas wie der finale Hafen, in die die Reise alle Beteiligten, sowohl von Purfoze, als auch von Cosmic Nights, geführt hat.
Ruuds Spielweise - sitzend vor den auf dem Boden stehenden Keyboards, ein Fell als Unterlage - kommt den EM-Fan natürlich bekannt vor, so hat es Klaus Schulze in früheren Jahrzehnten gemacht. Und Schulze-artig steigt Ruud auch ein, die Sequenz erinnert mich spontan an "Crystal Lake". Während sie aber dort über die Zeit immer hypnotischer und immersiver wird, nimmt sie sich bei Ruud nach ein paar Minuten wieder zurück, um Bässen Platz zu machen, die den Raum erbeben lassen - gegen die tut sich auch die Flöte schwer, deren Klänge Ruud sampelt und loopt. Erst als die Bässe langsam verebben, taucht der Rest der Sounds wieder auf, so als wäre man eine Weile unter Wasser gewesen und hätte alles nur verschwommen gehört. Auf ein atmosphärisches Zwischenspiel folgt das große Finale, hier auch mit Chören, und mit der gleichen Sequenz, mit der Ruud begonnen hat, beendet er sein Konzert: langsam blendet er sie wieder aus, und das wie gebannt lauschende Publikum wartet mit dem Applaus, bis wirklich die letzte Note verklungen ist.
War das eine Performance, die emotional berührt oder nicht? 30 Minuten Pause, um sie zu verarbeiten, sind mehr als angebracht. Mittlerweile dämmert es draußen und die vielen Kerzen, die überall im Saal aufgestellt sind, beginnen ihre Wirkung zu entfalten - was das alleine für eine Arbeit gewesen sein muss, sie sauber aufzustellen und anzuzünden! Jetzt sind sie die einzigen Lichtquellen, als mit Marc Creemers das letzte Mitglied von Purfoze angekündigt wird. Es wird sein erstes Konzert seit 16 Jahren sein, und sein erstes Solokonzert überhaupt. Minimalistisch ist sein Setup: Ein Notebook (dessen rote Thinkpad-LED leuchtet unübersehbar), ein Tablet und noch ein Controller - mehr nicht. Das reicht aber völlig aus, um erst einmal den Raum mit rauschendem Wasser, und danach mit den gleichen wummernden Bässen zu füllen, die wir schon vom Mark und Ruud gehört hatten. Die Sounds purzeln erst einmal recht unbehauen in den Raum, fast hat man den Eindruck, als wollte Marc erst einmal ausprobieren, was in diesem Raum überhaupt "geht". Recht schnell bekommt die Sache aber Struktur und Inhalt: Kurze "Episoden" von ein paar Minuten wechseln einander ab, als wollten sie Szenen eines Films untermalen und Stimmungen vermitteln: Bedrohung, Fröhlichkeit, oder Weiträumigkeit sind Attribute, die mir dabei in den Sinn kommen. Nach und nach setzt Marc immer mehr Teile zu immer komplexeren Szenen zusammen.
Nach der letzten "Episode" will Marc die Bühne ganz still und leise verlassen, aber sein (Fast-)Namensvetter hält ihn zurück. Seit vielen Jahren sind die drei (Ex-)Mitglieder von Purfoze mal wieder vereint, und das auch noch zum Abschluss der "Cosmic Nights" Reihe. Ohne ein Gruppenfoto gehen wir heute nicht von der Bühne! Und der wirklich allerletzte Moment gehört - wie sollte es anders sein - Mark de Wit alleine.
Ich bin ja größtenteils nur "passiver Besucher", und all die Mühen und Arbeit, jedes Jahr aufs neue ein solches Event auf die Beine zu stellen, kann ich nur erahnen. Mark hat das über viele Jahre geleistet, aber irgendwann geht es einfach nicht mehr. Das war also das letzte "Cosmic Nights" - oder vielleicht doch nicht? In den Pausen hatte ich die eine oder andere Bemerkung aufgeschnappt, dass sich vielleicht Jüngere finden werden, die Fackel aufzunehmen und weiterzutragen. Ich werde jedenfalls die "Cosmic Nights" Gruppe bei Facebook weiter aufmerksam beobachten.
Alfred Arnold