Phil Booth gehört mit seinen Awakenings-Events zu den rührigsten Personen der britischen EM-Szene. Knapp ein halbes Dutzend Mal im Jahr gibt er Musikern in Rugeley eine Möglichkeit, in intimem Rahmen Konzerte zu geben oder Dinge auszuprobieren - ob es eher Konzerte oder musikalische Workshops mit Publikum sind, liegt dabei im Auge des Betrachters.
Die "Awakenings" sind aber nicht der einzige Grund, den Blick des öfteren auf die "Lea Hall" in Rugeley zu werfen: Zweimal im Jahr veranstaltet Martyn Greenwood, seit seinem CD-Erstling einem größeren Kreis als "Concept Devices" bekannt, an gleicher Stelle ein Event mit ähnlichem Konzept. Der Jahreszeit angemessen heißen diese "Snow Bawl" und "Summer Bawl".
Es ist jetzt Anfang Februar und für mich endlich an der Zeit, auch einem "Bawl" mal einen Besuch abzustatten. Wie schon vor drei Jahren bei Awakenings und der "Deutschen Nacht" geht es mit der Fähre von Calais nach Dover über den Kanal. Wie der Zufall es will, ist es gerade einmal eine Woche her, dass das Vereinigte Königreich offiziell die EU verlassen hat. Zu irgendwelchen Problemen oder neuen Formalitäten führt das nicht, Kontrollen und Überfahrt verlaufen genauso wie früher, und dass die Fähre an diesem Samstag-Mittag nur zu einem Bruchteil gebucht ist, ist sicher ein Zufall und nicht darauf zurückzuführen, dass auf einmal niemand mehr nach England fahren möchte. Ich werde es jedenfalls weiterhin tun, ist das doch die beste Art und Weise, einen Blick auf eine EM-Szene zu werfen, die genauso kreativ und vielfältig ist wie die auf dem Festland. Patriotisch gesinnte Briten mögen mir übrigens verzeihen, dass ich den Kontinent als 'Festland' bezeichne.
Die Fahrtstrecke kenne ich ja bereits von der letzten Fahrt nach Rugeley, und so habe ich die Maut für das als "Dartford Crossing" bezeichnete Teilstück des Londoner Autobahn-Rings bereits im Voraus bezahlt. Die Überraschung kommt kurz vor dem Ziel: Der Begriff "M6 Toll" für eine Autobahn ist genau so zu verstehen - kurz hinter der Abfahrt erwartet uns eine etwas euphemistisch als "Toll Plaza" bezeichnete Mautstelle. Mit Bargeld kommt man hier nicht weiter, die Automaten akzeptieren nur (Kredit-)Kartenzahlung, und stehen - wie es sich in England gehört, auf der Seite, die für den Fahrer eines deutschen Autos eher unbequem zu erreichen ist. Gut, wer einen Beifahrer hat, und jetzt weiß ich, worüber Phil Booth immer flucht, wenn er in ein deutsches Parkhaus einfahren will.
Um ein paar nicht erwähnenswerte Pfunde erleichtert, checken wir im Hotel ein. Das "Travelodge" in unmittelbarer Nähe der Lea Hall war bereits ausgebucht, so logieren wir in knapp eine Meile entfernten "Cedar Tree" - Tag Eins eines langen Wochenendes ist geschafft. Auch wenn man am Samstag ausschläft und die Meile vom Hotel zur Lea Hall zu Fuß geht, ist noch reichlich Zeit bis 18 Uhr und zum ersten Konzert - Zeit, sich die Stadt Rugeley einmal etwas näher anzusehen:
Rugeley hat eine lange Bergbau-Tradition, über Jahrzehnte wurde Kohle gefördert und im daneben gebauten Kraftwerk verfeuert. Die Mine wurde Anfang der 90er-Jahre geschlossen, und auch die Tage des Kohlekraftwerks, das mit seinen vier Kühltürmen von fast überall in der Stadt zu sehen ist, sind mittlerweile gezählt. Lebensgroße Denkmäler von Bergarbeitern auf dem zentralen Kreisverkehr halten die Erinnerung an die Vergangenheit wach, ebenso wie der nach der Kohlemine benannte "Lea Hall Social Club", der ursprünglich als Erholungs- und Unterhaltungszentrum für die Minenarbeiter gegründet worden war. Der kleine "Pavillon" vor dem Sportplatz ist unser Ziel, aber dort ist kurz nach Mittag noch nichts von Musikern zu sehen - aktuell üben Kinder sich im Boxen. Das ist kein Problem, die Fußgängerzone Rugeleys beginnt direkt auf der anderen Seite des Kreisverkehrs. Es gibt dort eine erstaunlich hohe Zahl von "Charity-Läden", die gebrauchte Gegenstände für wohltätige Zwecke verkaufen. An Kleidung hatte ich keinen Bedarf, und dass sich unter all den Stofftieren ein weiteres Exemplar für meine Sammlung an Fiona-Stoffpuppen findet, wäre auch eher überraschend. Ein Fotostativ für schlappe drei Pfund ist aber ein Schnäppchen, dass man nicht vorbeiziehen lässt. Noch schnell ein wenig Proviant für die Rückfahrt kaufen, dann für den Weg zurück einen Bogen zum Park schlagen, vorbei an der Ruine der alten Kirche und herunter zum Kanal. Die Temperaturen sind an diesem Samstag schon fast frühlingshaft, von Schnee keinerlei Spur.
Das gute Wetter macht natürlich auch den Musikern die Anreise einfacher. Der Parkplatz neben dem "Lea Hall Pavilion" hat sich mittlerweile gefüllt, ebenso wie der eigentliche Saal. Bereits der erste Blick hinein macht deutlich: Das "Modular" im diesjährigen Titel "Duophonic Modular" ist ernst gemeint. So viele modulare Synthesizer aller Jahrgänge sind zusammengetragen worden, dass sie ebenso viel Platz einnehmen wie die Stuhlreihen für die Zuschauer. Ein Stuhl in der Mitte der ersten Reihe ist für einen besonderen Gast reserviert: Anton Uraletz wird auch für dieses Event extra aus Jekaterinenburg anreisen und den inoffiziellen Preis für den weitgereistesten Zuschauer einheimsen. Er ist nicht mit leeren Händen gekommen: ein paar Schachteln mit original russischen Pralinen liegen neben den Eingang aus und laden zum Zugreifen ein.
Auch wenn Martyn der Organisator der Bawls ist, man trifft hier all die wieder, die auch die "Awakenings" möglich machen. Phil Booth kümmert sich um den Mitschnitt aller Konzerte, den sowohl die physisch anwesenden Besucher erhalten werden, als auch diejenigen, die es nicht einrichten konnten und ein virtuelles Ticket gekauft haben. Ebenso dabei: "Master of Ceremony" Dave Buxton, der die Künstler einführt. Es sind heute keine Solo-Künstler, sondern nur Duos am Start, was die andere Hälfte des Titels erklärt.
Auf den Eintrittskarten konnte man lesen, dass Dave die Duos jeweils "aus dem Hut ziehen wollte". Dieser Hut scheint aber eher ein virtueller zu sein, und Dave benutzt die Metapher, um wie in Hogwarts jedes Duo einem Haus zuzuweisen. Machen wir also den Anfang mit ... Griffindore, vertreten durch Jez Creek und Norman Phay. Tritt Jez solo als "Modulator ESP" auf, dann ist er für seinen spacigen und kantigen Stil bekannt. Zusammen mit Norman schlägt er heute einen etwas sanfteren Pfad ein: Sphärige und raumschaffende Klänge füllen den Saal, während schwarzweiße Bilder über die Leinwand laufen. Die stellen sich schnell als eine Verfilmung von "Alice im Wunderland" heraus, genauer der Paramount-Spielfilm von 1933. Darauf haben Jez und Norman ihre Performance abgestimmt: Just als Alice in das Wunderland fällt, wechselt auch die Tonlage zu tieferen Tönen. Fortan begleiten sie Alice bei ihrer Reise durchs Wunderland, und je nach Episode gewinnen mal die Sequenzen und mal die Flächen die Oberhand. Manche behaupten ja, Berliner Schule wäre langweilig, aber das ist ein schönes Gegenbeispiel. Ob Jez aus den Filmszenen bewusst auch das "Mad Hatters House" ausgewählt hat? Sein Hut im Steampunk-Design ist ja sei Markenzeichen und hat schon vor dem Konzert am Platz auf seinen Träger gewartet.
"Alice im Wunderland" hat eigentlich eine Spieldauer von knapp anderthalb Stunden, so viel Zeit ist heute (leider) nicht. Nach einer guten Dreiviertel Stunde und einem Finale an der königlichen Tafel wacht Alice aus ihrem Traum auf. Jez und Norman dürfen den wohl verdienten Applaus entgegen nehmen, sie haben die stilistische Richtung für diesen Abend gewiesen. Daves Kommentar: "Just like Alice, it was all a dream!". Ein Traum schon, aber eher traum-haft als irreal!
Wer vielleicht etwas zu unsanft aus seinen Träumen erwacht ist, der hat jetzt eine halbe Stunde Zeit, zum Beispiel, um herüber zur großen Halle zu gehen und sich ein Bier auf den Schreck zu holen. Für die Musiker und Organisatoren sieht die Pausengestaltung natürlich anders aus: Tische und Instrumente müssen abgebaut und auf Seite geräumt werden, schließlich soll die Sicht auf das folgende Duo frei sein. John Christian und Adrian Beasley kennt man normalerweise als zwei Drittel von AirSculpture, ohne den dritten Mann Peter Ruczynski treten sie heute einfach unter ihrem eigenen Namen auf. Das markanteste Teil des Aufbaus: eine als Modular-Rack umfunktionierte Obstkiste, die in ihrem ersten Leben (das aber schon eine ganze Weile her sein muss) einmal britische Erdbeeren beherbergt hat. Was daraus wohl für ein "Jam" werden wird? Auch John und Adrian verschießen ihr Pulver nicht gleich zu Anfang: Wenn man gemäß der "Berliner Schule" arbeitet, dann darf man sich auch gerne einmal etwas mehr Zeit lassen, um ein Thema zu entwickeln. Nach ein paar Minuten nimmt die Sache Fahrt auf. Verglichen mit dem ersten Konzert ist das Klangbild dichter und intensiver, und dieses Duo gönnt sich und uns weniger Atempausen - wenn das vorhin ein Traum war, dann ist das jetzt definitiv eine Wach-Phase. Der eine oder andere Ton geht dabei nicht ganz so glatt ins Ohr, aber das soll er auch gar nicht. Besonders Adrian setzt ein ums andere Mal einen harten Kontrapunkt. Passend dazu sind die Visuals dynamischer: Flüge in hohem Tempo durch abstrakte Räume und Landschaften. Kurz hinter der Mitte wird die Gangart für einen Moment gemächlicher, um gleich darauf mit einem neuen Thema wieder anzuziehen.
Egal ob Traum oder nicht, auch dieses Konzert ist eigentlich viel zu kurz; John und Christian hätten problemlos so noch eine Weile weiter spielen können, ohne dass es irgendwelche Wiederholungen oder Längen gegeben hätte. Aber der Zeitplan gibt vor: 25 Minuten Pause, dann steht schon das letzte Konzert auf dem Plan.
Wie viele unter den EMpulsiv-Lesern mögen eigentlich etwas "Geartalk" im Bericht? Unter den heute aufgebauten Geräten sticht eines besonders hervor, nämlich der EMS VCS-3. In einer ähnlichen Zeit gebaut wie der Minimoog, fällt er durch seine ungewöhnlichen Bedienelemente auf: Zehngang-Potentiometer, Joystick, Zeigerinstrument, ein Steckfeld und das Fehlen einer Tastatur lassen ihn auf den ersten Blick wie eine Mischung aus Messgerät und Zeitschaltuhr erscheinen. Aber nein, es ist ein analoger Klangerzeuger, und ähnlich legendär wie andere Synthies der frühen 70er-Jahre. Stephan ist besonders stolz darauf, dass am heutigen Abend gleich zwei dieser Sammlerstücke an einem Ort sind; bereits Jez hat im ersten Konzert einen VCS-3 verwendet. Der wird in der Pause aber flugs weggeräumt, und Stephan entfernt das Tuch von seinem Exemplar.
Das war doch etwas mit Hüten und Häusern? Welchem Haus Dave John und Christian zugewiesen hat, das hatte ich gar nicht mitbekommen. Bei Stephan und Gerallt Ruggerio, der sein Partner sein wird, ist es ausdrücklich - Slytherin. In Hogwarts steht Slytherin für Einfallsreichtum und List. Einfallsreich ist Stephan auf jeden Fall, ich kenne kaum einen anderen Musiker, der von seinen Stilen so vielseitig und wandlungsfähig ist. Seine melodische Seite wird er an heutigen Abend wohl eher nicht zeigen. Auch im dritten Konzert stehen lange Titel und Sequenzen im klassischen 70er-Jahre-Stil auf dem Programm. Stephan und Gerallt verstehen es aber, der Sache eine deutlich andere Farbe zu geben: Ein eher melancholischer Einstieg, und die Musik entwickelt auch bei weitem nicht die Kraft, wie man sie vorher bei John und Ardian erlebt hat. Dieses Duo bevorzugt es, die Klänge einzeln für sich in den Raum zu stellen, anstatt sie zu einem Bild verschmelzen zu lassen. Dazu sehen wir Bilder aus dem letzten Jahrhundert: Stahl- und Kohleindustrie, die Mechanisierung der Landwirtschaft und was damals noch der Stand der Zivilisation war. Aus heutiger Sicht wirkt es alles irgendwie überholt, und man zieht unwillkürlich die Assoziation zu dem stillgelegten Kohlekraftwerk, für das man nur vor die Tür gehen muss, um es zu sehen. Die Schließung von Mine und Kraftwerk zwang alle, sich neu zu orientieren, aber so wie die Kohlekumpel auf den Kreisverkehr an die Geschichte erinnern, so darf man sich auch hier einmal gerne in frührere Zeiten zurück versetzen - immerhin wurde damals die Musik entwickelt, die wir bis heute so schätzen.
Auch Stephan und Gerallt bekommen ihren wohl verdienten Applaus, und bevor man sich wieder den Weg nach Hause oder ins Hotel macht, sind noch ein paar Termine zu verkünden: In einem guten Monat hier im Pavillon das erste "Awakenings" des Jahres, und schon am kommenden Wochenende ein Ambient-Festival in Nottingham - wie eingangs erwähnt, die Szene in England ist nicht minder lebendig als hier bei uns. Last but not least: Der "Summer Bawl" als Pendant zum "Snow Bawl". Wobei: Eine Schneeflocke habe ich in diesen zwei Tagen nicht gesehen. Dave hatte die diesjährige Ausgabe schon scherzhaft zum "Climate Change Bawl" umdeklariert. Er hatte wohl den Wetterbericht für den Sonntag gelesen: Stürme und Regen bescherten uns eine etwas unsanfte Rückfahrt, einen Umweg durch die Londoner Innenstadt eingeschlossen, weil die große Brücke über die Themse gesperrt war. Aus gleichem Grund fuhr dann in Dover auch keine Fähre mehr über den Kanal, wir bekamen stattdessen ein Frei-Ticket für den Eurotunnel. Hoffen wir einfach mal, dass die Brexit-Verfechter nicht auf die Idee kommen, auch noch diese 'Brücke' zum Kontinent abbrechen zu wollen. Ich fahre ich einfach zu gerne immer mal wieder zu einem "Bawl" herüber, und je leichter das ist, desto besser läuft der musikalische Austausch - in der einen wie auch der anderen Richtung ...
Alfred Arnold