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Wiedererwachen in Rugeley

Auch auf der Insel erwacht die EM-Szene 2022 wieder aus dem Dornröschenschlaf, den ihr der Virus zwei Jahre aufgezwungen hatte. Anfang des Jahres hatte Phil Booth zwei Ausgaben seiner Awakenings-Reihe angekündigt, und dieses Mal auch wieder mit Publikum vor Ort - während der Hochzeit der Pandemie hatte es auch ein "Awakenings" gegeben, für das man ausschließlich virtuelle Tickets lösen konnte. Direkt beim ersten im April war ich noch nicht persönlich dabei, aber nachdem mir davon berichtet worden war, stand der Entschluss fest: Ich will auch wieder nach Rugeley! Man kann dort immer wieder EM-Musiker live sehen, die noch nie live auf dem "Kontinent" gespielt haben, und bei denen das auf absehbare Zeit auch nicht passieren wird (dazu später mehr).

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Verglichen mit einem Tages-Trip nach Eindhoven, nach Belgien oder auch einem Wochenende in Berlin ist der Weg nach Rugeley natürlich eine halbe Weltreise - seit das Vereinigte Königreich nicht mehr EU-Mitglied ist, ist zum Beispiel ein Reisepass erforderlich. Eine Option als Reisemittel ist bei rechtzeitiger Buchung natürlich das Flugzeug. Wenn man nicht alleine reist, geht es aber auch mit dem eigenen Auto; man ist dann vor Ort etwas flexibler. Das klassische Mittel, um den Kanal damit zu überqueren, ist die Autofähre. Als wir sie beim letzten Mal vor gut zwei Jahren genutzt haben, erlebten wir auf dem Rückweg eine unangenehme Überraschung: Sturm über dem Kanal legte sämtliche Verbindungen lahm. Retter in der Not war damals der Kanaltunnel, und so buchte ich ihn dieses Mal direkt. Sich einfach unter dem Meer hindurch fahren lassen, egal wie hoch dessen Wellen gehen, das schien eine sichere Sache zu sein?

Aber auch wer auf diesem Weg die Überfahrt macht, ist nicht vor Pannen und Überraschungen sicher. Direkt nach der Grenze von Belgien zu Frankreich öffnet der Himmel seine Schleusen, und am Tunnel-Terminal in Calais angekommen, werden wir über Probleme und Verzögerungen informiert. Denen wird doch nicht der Tunnel vollgelaufen sein? Nein, einer der Züge hat wohl  technische Probleme und wir fahren nur etwa eine halbe Stunde später als geplant in Folkestone auf die "Motorway". Wie üblich habe ich bereits im voraus die Maut für die Dartfort Crossing auf dem Londoner Autobahnring bezahlt, so dass man die Hinweis-Texte "Pay Toll by tomorrow night" entspannt vorbei ziehen lassen kann. Nicht ignorieren lässt sich dagegen zwei Stunden später der "Toll Plaza" auf der Motorway M6. Etwa sieben Pfund für eine Benutzung sind zwar nicht wenig, ersparen aber die langwierige Fahrerei auf Landstraßen. So ist es noch hell, als wir Freitag Abend  bei unserem Appartement in Stafford ankommen. Hotels direkt in Rugeley sind eher dünn gesät, und einige von deren Zimmern sind auch bereits für die bei "Awakenings" spielenden Musiker  gebucht.

Der Samstag beginnt geruhsam: Dieses "Awakenings" ist kein "All-Dayer", d.h. Phil hat nur drei Acts gebucht, und die beginnen am frühen Abend. Nach ausgiebigem Bummel durch Stafford und Rugeley sowie dem Abendessen im "Wetherspoon", einem ehemaligen Kino (vielen Dank, lieber John, beim nächsten Mal bin ich mit Bezahlen dran!) können wir entspannt zur Sandy Lane schlendern. Hier hat sich in den letzten zwei Jahren einiges getan: Eine Reihe von neuen Wohnhäusern ist direkt neben dem "Lea Hall Pavillon" entstanden, und Reste der Baustelle beschränken die umliegenden Parkplätze noch ein wenig. Die "Skyline" mit den Kühltürmen auf der anderen Seite des Fussballfeldes ist im Gegenzug verschwunden; das vor zwei Jahren bereits stillgelegte Kraftwerk ist mittlerweile wohl ganz abgerissen worden.

So entspannt für uns der bisherige Tag war, für Musiker und Veranstalter war er das bisher bestimmt nicht. Es war ja schon immer bemerkenswert, wie dieser vergleichsweise kleine und schlichte Raum für einen Tag in einen EM-Tempel verwandelt wird, aber heute will man die der "Packungsdichte" wohl noch eine Stufe weiter treiben. Das ist nicht zuletzt Axxent Opaque zu verdanken, die einen ähnlich großen Gerätepark auffahren, wie ich ihn von ihrem Auftritt beim E-Scape Festival 2019 kenne.

Größere Probleme sind trotz dieses Aufwands aber nicht aufgetreten, wie man an Phils entspannter und freundlicher Mine ablesen kann. Und John Dyson, der immer gerne mit seiner Rolle als "Senior" in der Musiker-Runde kokettiert, tut mit seinen Späßen ein übriges, dass die Stimmung deutlich im grünen Bereich liegt. Da macht es auch nichts, dass das erste Konzert mit leichter Verspätung beginnt - normalerweise hat Dave Buxton, der wie immer die Rolle des Conferenciers übernimmt, ein Auge auf die Uhr. Aber die traurigen "Abgänge" in der EM-Szene, allen voran Klaus Schulze und Vangelis, dürfen in der Einführung nicht unerwähnt bleiben.

Was die Acts angeht, ist Dave heute zu Wortspielen aufgelegt: Den Namen des ersten Künstlers könnte er ja gar nicht aussprechen, ohne eine milde Beleidigung in den Raum zu stellen, denn "Grüm~pe" klingt ja so wie "grumpy". Auch wenn eine regelmäßig wiederkehrende Stimmung der Ursprung des Künstlernamens sein sollte, grantig ist Maurice Gallagher in diesem Moment mit Sicherheit nicht, wo er den Abend eröffnen darf. "Konzentriert" ist für mich das passendere Wort, denn man sieht ihm an, wie ernst er das nimmt, was er gerade tut. Stilistisch könnte man seine Musik in der experimentellen EM-Ecke verorten: Minimalistische und improvisierte Sounds, live und mit großer Hingabe erzeugt. Wie man es von "klassischer Berliner Schule" kennt, kommen auch hier Sequenzen hinzu, aber jedes Mal, wenn man als Zuhörer meint, in bekannten Fahrwasser angekommen zu sein, stellt Maurice dem wieder einen scharfen Kontrapunkt entgegen - so lange, bis er endlich den Weg gefunden hat, der ihm der richtige zu sein scheint. Und diesem bleibt Maurice dann bis zum Ende treu. Was uns hier zum Einstieg geboten wird, ist sicher alles andere als einfache Kost, aber ich habe lange kein Konzert gehört, in dem ein Musiker so stringent auf seinem eigenen Weg bestanden hat - und auf diese Weise dann auch die Hörer überzeugt. Hut ab und großer Respekt, sowohl für Maurice, als auch für Phil, dieses Konzert direkt an den Anfang zu stellen!

Die folgende Pause ist hoch willkommen, und sei es nur zur Abkühlung und Erfrischung. Auch wenn die "Lea Hall" heute ein EM-Palast ist, so hat sie doch die Schwäche, dass sie nur schwer belüftet werden kann, und verbunden mit sommerlichem Wetter und dem sehr guten Besuch an diesem Abend werden die Konzerte zu einer wortwörtliche "heißen Angelegenheit". Viele Besucher führt der Weg in der Pause deswegen auch schnurstracks den Hügel hinauf, zum Vereinsheim und der Bar, um sich ein kühles Getränk zu besorgen.

Für viel mehr als ein Getränk und einen kurzen Plausch reicht die erste Pause dann aber nicht, denn wir wollen nicht weiter aus dem Zeitplan fallen. Der nächste Act ist bereit loszulegen: "Infinity Curve" besteht aus zum einen aus Jez Creek, Mitorganisator der "Awakenings" und stets erkennbar an seinem Hut im Steampunk-Look. Die Gläser der daran festgemachte Brille scheinen ein Upgrade erfahren zu haben, sie glitzern jetzt wie Kristalle. Den "Durchblick" hat Jez aber auch ohne sie...und wir werden ihn mit Sicherheit auch nicht mit Jez Shearing von "Infinity Room" verwechseln, sollte dieser oder einer seiner Anwälte während des Konzerts im Saal auftauchen - als die beiden "Infinities" das letzte Mal am gleichen Ort spielten, soll es zu Irritationen gekommen haben. Dave will deshalb heute vorsichtig sein und stattdessen von "Everlasting Curve" sprechen...

Auf der anderen Seite des Kanals, wo dieser Bericht geschrieben wurde, sind wir vor britischen Anwälten hoffentlich einigermaßen sicher, so bleibe ich bei "Infinity Curve". Dessen andere Hälfte ist Peter Challoner, der solo für atmosphärische und sanfte Klänge bekannt ist. Damit haben wir den Fall, dass zwei gänzlich unterschiedliche Charaktere aufeinander treffen, denn was Jez solo als "Modulator ESP" macht, ist deutlich kantiger und geht in die Richtung dessen, was wir im ersten Konzert gehört haben. Wasser und Öl mischen sich bekanntlich schlecht oder nicht, aber diese Mixtur scheint zu funktionieren, denn "Infinity Curve" spielt bereits seit einigen Jahren zusammen und kann auf mehrere Alben-Veröffentlichungen zurück blicken.

Dass das Zusammenspiel auch heute funktioniert, merkt man schon bei den ersten Takten. Peters Klangwelten wirken wie ein Medium, das Jez' Sound-Effekte einbettet und integriert. Ganz behutsam nimmt Peter ihn mit, während die Musik langsam Fahrt aufnimmt. Wem das erste Konzert doch etwas zu anspruchsvoll war: Hier kann man sich einfach mittragen lassen, diese Reise in die Unendlichkeiten des Alls fühlt sich wie auf einem Samtkissen an.

Recht genau zur Mitte des Konzerts tritt Jez mit seinen Sounds stärker in den Vordergrund. Das Klangbild wird schärfer und rauer, hier kann man die Einflüsse aus "Modulator ESP" spüren. Sie werden aber so dosiert eingesetzt, dass es keine Brüche gibt und das ganze nicht aus der "Kurve" fliegt. Das ist ein sehr schönes Beispiel für ein Duo, das zueinander gefunden hat und wo nicht nur zwei einfach nebeneinander her spielen, weil sie gerade auf der gleichen Bühne stehen. Dass auf so einer Basis am Ende noch Raum für einen "Solotrip" ist, zeigt Peter mit einem melancholischen Piano-Solo - eine Referenz an den gerade vor ein paar Tagen verstorbenen Vangelis, der es ja wie kaum ein anderer verstand, mit einer Handvoll Töne eine Stimmung zu erzeugen?

Die folgende Pause bietet wieder Gelegenheit, draußen den lauen Frühsommerabend zu genießen. Im Saal ist es mittlerweile ein wenig kühler geworden, auch weil geöffnete Fenster wenigstens ein wenig Luftaustausch schaffen. Alternativ kann man Axxent Opaque bei den letzten Vorbereitungen zuschauen. Phil erzählt, dass das Trio aus Colin Jordan, Gary Wright und Chris Medway damit bereits am Mittag angefangen hatte. Aber erst jetzt, nachdem das Equipment der ersten beiden Acts abgeräumt ist, kann man in Gänze bewundern, was hier alles aufgebaut wurde. Dave wird dies in seiner Ansage übrigens als das "Live Reduced Kit" bezeichnen, und dass es deshalb nicht notwendig war, das Dach anzuheben. Viele Geräte bedeuten natürlich auch viele potentielle Fehlerquellen, und wenn eine Viertelstunde vor Beginn des Konzerts auf allen Knien mit der Taschenlampe nach Problemen gesucht wird, weckt das Zweifel, ob denn alles pünktlich bereit sein wird.

Aber da Axxent Opaque immer so viel Geräte auf der Bühne auffährt, ist wohl die Routine und auch das Selbstvertrauen vorhanden, die damit verbundenen Risiken zu meistern. Dave erwähnt in seiner Einführung noch, dass das Logo der Band nicht ohne Grund auf Pink Floyd anspielt - auch in der Musik würde man das eine oder andere Zitat finden. Deren Musik ist jetzt aber nicht unbedingt mein Spezialgebiet, ich entdecke in der folgenden Stunde dafür aber den einen oder anderen TD-Sound wieder. Wenn man denn unbedingt eine Schublade für Axxent Opaque finden will, dann wäre das für mich "Tangerine Dream meets Pink Floyd", und mit Tangerine Dream ist die Besetzung aus den 80er-Jahren gemeint.

Man kann aber auch auf solche Einordnungen verzichten und sich einfach wie der Saal von der Musik Axxent Opaques mitreißen lassen. Die Tracks sind abwechslungsreich und werden niemals langatmig, und die "Verantwortung" für die Melodielinie wandert von Titel zu Titel zwischen den drei Akteuren hin und her. Auch wenn Colin in der Mitte gefühlt als "Chef" agiert und den größten Aufbau vor und hinter sich hat, Garys und Chris' Beiträge sind genauso wichtig und gehen im Gesamtergebnis nicht unter. Und so geht die Forderung "More!" am Ende des geplanten Programms gleichberechtigt an alle drei Musiker: Was hätten wir denn noch als Zugabe auf Lager? Ein 20-Minuten-Track, im Stil von "Sorcerer", aber Sounds aus neueren Jahrzehnten, setzt den Schlusspunkt unter dieses Konzert und den Abend. Der wäre natürlich ohne die Abmoderation von Dave unvollständig: Dank an die Musiker, Dank an die Organisatoren, und Dank an die Besucher, die zum Teil von weit her gekommen sind. Unter denen ein ganz besonderer Dank an John Dyson dafür, dass er...einfach John Dyson ist, und den ganzen Abend mit seinen Späßen und Süßigkeiten gute Laune verbreitet hat. Vielleicht sehen wir ihn in einer der nächsten Auflagen von "Awakenings" ja auch einmal wieder auf der Bühne...

Für mich das Fazit des Abends und des Wochenendes: Eine Reise über den Kanal zu unseren britischen Freunden lohnt sich, auch wenn sie nicht einfacher geworden ist. Sie weitet den Blick, was es noch so an in der Szene gibt, und man sieht Bands, die es auf absehbare Zeit wohl nie auf den Kontinent für einen Auftritt schaffen werden. Dass zum Beispiel Axxent Opaque mit ihrem Gerätepark irgendwann einmal außerhalb des Vereinigten Königreichs live spielen, das halte ich angesichts des Aufwands für sehr unwahrscheinlich. Die dafür zweimal zu absolvierenden Zoll-Formalitäten müssen
schon bei weit weniger eine sehr unerfreuliche Angelegenheit sein.

Wie geht es mit "Awakenings" weiter? Phil Booth war ja erst einmal vorsichtig und hatte für 2022 nur zwei Termine geplant. Bei denen wird es aber wohl nicht bleiben: Im Herbst soll es weitergehen, vielleicht auch mit einem "All-Dayer", zu dem dann fünf statt nur drei Acts kommen. Wenn es irgendwie geht, werde ich mich dann wieder zur Sandy Lane in Rugeley aufmachen!

Alfred Arnold

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.