Wie Ihr vielleicht auch, habe ich bei mir zu Hause in der Küche so ein schwarzes Brett, an dem alles landet, was nicht vergessen werden darf oder noch erledigt werden muss. Dort landen bei mir auch im Vorverkauf erworbene Tickets, die an dem Tag wieder abgehängt werden, wenn es so weit ist. Eines davon hat sich aber über mehr als zwei Jahre diesem Schicksal hartnäckig widersetzt, nämlich die Eintrittskarte für das Kraftwerk-Konzert in Bonn: Gekauft noch vor dem ersten Lockdown, mit dem 16. Mai 2020 als Termin versehen, sowie der Werbung für das Beethoven-Jahr 2020, das ja aus bekannten Gründen größtenteils ausgefallen ist. Anstatt benutzt zu werden, landete auf ihm über die Monate ein Post-it nach dem anderen, jeweils mit dem aktuell geplanten Termin. Schlussendlich wurde es dann der 28. August 2022 - der erste Sommer, in dem wieder Konzerte dieser Größenordnung machbar sind.
Denn so ein Kraftwerk-Konzert auf der Hofgarten-Wiese, mit einer geplanten fünfstelligen Zahl an Besuchern, ist schon etwas ganz anderes, als wenn man in Rugeley mit ein paar Dutzend Zuhörern in einem Sälchen sitzt, oder in Eindhoven mit knapp dreihundert davon - wobei ich bewusst "anders" und nicht "besser" oder "schlechter" sage.
Da wären zum einen die strikten Regeln, welche Dinge mit hinein genommen werden dürfen: keine "professionellen Kameras", keine größeren Taschen, die einzige Konzession an den Hochsommer: Eine 0,5 Liter PET-Flasche mit einem nicht-alkoholischen Getränk. Also bleibt der Rucksack in einem Schließfach im Bahnhof, das Nötigste wandert in eine Gürteltasche und meine Sony RX-100 ist klein genug für die Hosentasche, ohne aufzufallen. Ich bin trotzdem erst einmal vorsichtig und hole sie erst heraus, als es dunkel wird. So ist die Aufnahme der ganzen Wiese mit dem schon etwas angestaubten Smartphone gemacht, gegen diese Art der Bild-Aufnahme haben auch die Organisatoren großer Konzerte mittlerweile den Kampf aufgegeben.
Der erste Eindruck: Eine Mischung aus Jahrmarkt und Konzert-Location. Reihen von Buden bieten entweder Speisen und Getränke, oder Merchandise passende zum heute spielenden Act. So ein Aufbau mit Bühne, großen Projektoren und Sound-Technik wird natürlich nicht nur für ein einzelnes Konzert gemacht: Am Vortag hat hier Deichkind gespielt, und übermorgen wird Robbie Williams erwartet.
Zumindest die Roadies, die für das Equipment auf der Bühne zuständig sind, dürften heute einen eher entspannten Job gehabt haben: Kraftwerks Bühnen-Setup ist wie gewohnt minimalistisch, vier Pulte für vier Akteure und das war es. Ganz nahe werde ich heute leider nicht an die Bühne herankommen. Die ersten Meter direkt davor sind separat abgeteilt, nur mit einem weißen Bändchen wird man dort hinein gelassen. So etwas habe ich leider nicht. Ob nur die ersten soundsoviel Besucher ein solches Bändchen bekommen haben, oder ob mein Ticket nicht aus der passenden Preisklasse ist, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. So werde ich wieder einmal daran erinnert, dass das Objektiv der RX100-3 lediglich bis 70 Millimeter Brennweite reicht. Ein Upgrade ist eigentlich seit zwei Jahren eingeplant. Schauen wir mal, wie der nächste Bonus auf der Gehaltsabrechnung ausfällt...
Das Konzert werde ich also aus gut fünfzig Metern Entfernung, an einem Absperrgitter lehnend, verfolgen. Nicht nur Ordner patrouillieren vor diesem Gitter hin und her, es gibt auch eine Bar mit sehr freundlicher Bedienung, die das Bier anreicht. So schlimm ist es also gar nicht, vor allem wenn man am "Zaun" noch Bekannte trifft und über vergangene und zukünftige Events plauschen kann. Ein auch nicht zu vermeidendes Thema: Man wird älter, die Beine werden von dem Warten aufs Konzert doch langsam schwer. Das war wohl doch das letzte Konzert, für das man keinen Sitzplatz gebucht hat...
Die ersten Signale von der Bühne sind noch ohne die vier Akteure: Eine gute Viertelstunde vor neun Uhr beginnen ambiente Klänge über die Wiese zu wabern, dazu sehen wir auf der Leinwand das stilisierte Bild von vier Musik- Arbeitern an ihren Pulten, das man auch schon von den Papphüllen der 3D-Brillen kennt. Die kann man jetzt aufsetzen und antesten, wie gut der 3D-Effekt funktioniert. Es klappt erstaunlich gut, vor allem wenn man berücksichtigt, wie weit wir von der Bühne und Leinwand entfernt sind.
Auf die Minute genau um neun Uhr kommen dann vier Herren in den bekannten Anzügen mit leuchtendem Gittermuster auf die Bühne und beginnen mit der eigentlichen Show. Nach dem Tod von Florian Schneider im vorletzten Jahr ist von der "70er-Jahre-Originalbesetzung" nur noch Ralf Hütter dabei. Daran und an der Tatsache, dass die letzte "echte" Neukomposition von Kraftwerk vom Anfang des Jahrtausends datiert, scheiden sich bekanntermaßen in der Szene die Geister: Für die einen ist ein Kraftwerk-Konzert nur noch so eine Art nostalgische Aufführung, die besser in ein Museum passen würde. Für andere ist Kraftwerk immer noch der "Goldstandard" elektronischer Musik, an dem sich Andere messen lassen müssen, und die Titel von "Autobahn" bis "Expo 2000" sind eben so zeitlos, dass sie heute noch so gut sind wie vor dreißig Jahren. Und letzten Endes: Das ist in anderen Bereichen der Musik ja auch gar nicht so anders. Wer zum soundsovielten Male auf das letzte Konzert der Rolling Stones geht, will ja auch nichts Neues hören, sondern den Groove, mit dem man damals als Teenager aufgewachsen ist.
Schwelgen wir also die folgenden zwei Stunden ein wenig in Erinnerungen, die voll und ganz bedient werden, denn es kommen wirklich alle Klassiker: Computerwelt, Autobahn, Trans-Europa-Express, Neonlicht, Das Model...bestimmt habe ich einige in der Aufzählung vergessen, aber wir kennen sie ja ohnehin alle. Zwei davon bleiben besonders in Erinnerung: Für "Die Roboter" werden die menschlichen Akteure durch Puppen ersetzt. Auch das hat Kraftwerk schon früher gemacht, aber heutzutage ist die Technik so weit, dass die Puppen sich ferngesteuert bewegen. Ein weiterer Track, den besonders ich erwartet hatte, und der nicht fehlen darf, ist "Radio-Aktivität". Dieses Album (mitsamt dem Bogen Aufkleber...) war in den 80ern mein erstes Stück Vinyl vom Taschengeld. Leider wird es heute nur in der "auf Techno remixten" Version aus den 90ern gespielt - die schwebende Leichtigkeit des Originals von 1975 geht dabei leider verloren, und auch das Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Worts "Radio" kommt nicht mehr so recht zum Ausdruck. Die Botschaft hat sich deutlich in Richtung der Kernkraft und ihrer Risiken verschoben und ist eine viel düstere. Aber das muss vielleicht so sein, wenn man wenigstens etwas am Puls der Zeit bleiben will.
Was ohne Frage topaktuell ist, ist die Qualität der Videoprojektionen. Wer neulich in Düsseldorf auf der Ausstellung "von Kraftwerk bis Techno" war, der kennt die retro-minimalistisch angehauchten Animations-Videos, versetzt mit historischen Aufnahmen von der Tour de France oder Models aus den 60er-Jahren. Hier, wo alles so viel größer ist als in dem kleinen Projektionsraum eines Museums, schweben sie wirklich über den Köpfen der Zuschauer in den vorderen Reihen.
So pünktlich wie das Konzert angefangen hat, so endet es auch zwei Stunden später. Was ich von Finale nicht erwartet hätte: Da wird jetzt doch ein wenig die Distanz gebrochen, mit der sich Kraftwerk normalerweise umgibt. über den Schlusstitel "Music Nonstop" improvisiert jeder der Vier ein wenig, so als wolle man beweisen, dass hier wirklich live gespielt wird. Und dann noch eine Verbeugung Richtung Publikum, verbunden mit einem Lächeln. Auch in der "Mensch-Maschine" steckt doch noch ein Mensch...
Eine Zugabe gibt es nicht, dazu ist das Programm dieses Abends doch zu fest und im voraus geplant. In der Masse mit schwimmend, bewege ich mich Richtung Ausgang und dann weiter zum nahe gelegenen Bahnhof. Auch im Zug nach Aachen werde ich noch Besuchern dieses Konzerts begegnen, erkennbar an der 3D-Brille - was noch einmal vor Augen führt, dass dieses Konzert von den Zuschauerzahlen in einer ganz anderen "Liga" gespielt hat als was ich ansonsten besuche. Und falls Ihr nach dem Lesen dieses Berichts vielleicht heraus gelesen habt, dass mir nicht alles daran gefallen hat: Ja, das mag vielleicht sein, aber Geschmäcker sind eben unterschiedlich und die Besucherzahlen geben diesem Konzept letzten Endes Recht. ich habe die knapp siebzig Euro Eintritt unter dem Strich nicht bereut. Und falls sich Kraftwerk etwas neues überlegt, wie man die bekannten Titel in ein neues Gewand kleiden kann, werde ich mir auch das wieder ansehen. Ralf Hütter hat einmal gesagt, es wäre dabei gar nicht so wichtig, welche vier Personen auf der Bühne stehen und das Werk aufführen - die Musik selber ist das Entscheidende. Und in der Geschichte der EM sind und bleiben Kraftwerk einer ihrer Meilensteine.
Alfred Arnold