Sind es die aktuellen Umstände, oder persönliche Erlebnisse, oder eine Kombination aus beidem, die bei einem Künstler zu einem Kreativitätsschub führen? Die Frage könnte man Stefan Erbe stellen, ist es doch ein für ihn ungewohntes Vorkommnis, dass bereits ein halbes Jahr nach dem letzten Studioalbum "Nachtlichter" schon der Nachfolger seine Fans erreicht.
Rhythmische und atmosphärische Titel wechseln auch hier einander ab, aber die Grundstimmung ist eine andere: Alles über alles legt "Breathe" eine merklich langsamere und weniger poppige Gangart als "Nachtlichter". Das geht natürlich nicht so weit, dass ein Hardcore-Ambient-Fan dieses Album als sein 'Ding' betrachten würde, aber es ist schon signifikant, wie dieses Mal das eine oder andere stilistische Element aus dieser Ecke in das Erbesche Klang-Universum integriert wurde, ohne dabei Abwechslung und Spannungsbogen zu vernachlässigen. Auch für "Breathe" empfehle ich, die Tracks in der vom Schöpfer vorgegebenen Reihenfolge zu hören und das Album nicht in den musikalischen Fleischwolf eines Shuffle-Modes zu stecken. Zusammen mit den Namen der Tracks erschließt sich dann, wie "Breathe" eine Art persönliches, musikalisches Tagebuch der letzten Monate sein könnte, mit allen ihren Höhen und Tiefen, all ihren Beschleunigungen und (Not-)Bremsungen im Alltag.
Auch wenn "Breathe" natürlich wieder ein Album ist, das man als Erbe-Fan "einfach so" ohne tiefere Gedanken genießen kann, so hat es eine nachdenkliche und reflektive Tiefe, die Gelegenheit gibt, auch einmal selber über den einen oder anderen Moment in der letzten Zeit nachzudenken. Stefan Erbe wäre nicht Stefan Erbe, wäre der Ausblick im Schlußtrack nicht positiv, und selbiger bringt noch einmal den einen oder anderen unerwarteten und neuen Sound.
Unser Leben besteht aus vielen Momenten, auch wenn ein solcher manchmal nur ausreicht, tief durchzuatmen. Ich bin geneigt, den Titel diese Albums als Imperativ zu interpretieren: Atme, denn Atmen ist Leben, und das Leben geht immer weiter. Solange es Erfahrungen wie dieses Album bereit hält, ist es absolut die Sache wert.
Alfred Arnold