Auch wenn es etwas angeberisch klingt: Es kommt nicht mehr oft vor, dass ich eine Konzert-Location zum ersten Mal ansteuere - die meisten Festivals finden ja im Jahres-Rhythmus am gleichen Ort statt. Heute ist einer jener seltenen Tage, an denen ich ein Ziel zum ersten Mal ins Navi eintippe. Das liegt aber weniger daran, dass die Sophienkirche in Wuppertal zum ersten Mal mit elektronischer Musik bespielt wird. Der Grund liegt viel mehr daran, dass das "Phobos-Festival" meiner Aufmerksamkeit bisher schlicht und ergreifend entgangen war. Martin Stürtzer, seinen Organisator, hatte ich erst vor ein paar Monaten zum ersten Mal bei Winnie im Garten erlebt, und wenig später noch einmal mit einem äußerst abwechslungsreichen Set auf dem Electronic Circus.
Ein Festival pro Jahr scheint Martin nicht zu reichen, denn neben "Phobos", das im Frühjahr terminiert ist, hat er neu "Elberfeld Ambient" aus der Taufe gehoben. Ein Freitag als Wochentag ist eher ungewöhnlich, also bemüht man sich, einen eher zeitigen Feierabend zu machen, der Verkehr auf der Autobahn hält an einem Werktag deutlich mehr Überraschungen bereit als am Wochenende. Des weiteren wurde ich vorgewarnt, in der näheren Umgebung der Sophienkirche gäbe es kaum Parkplätze. Im Nachhinein hätte ich sicher einen näheren Parkplatz als an der Stadthalle gefunden. Dafür erfährt man auf dem Fußweg hautnah, warum diese Stadt Wupper-Tal heißt: Es geht bergab, über die Wupper und gleichzeitig unter der Schwebebahn hindurch, deren Gerüst und Schienen den Fluss über weite Strecken überspannen. Die Bahn fährt am frühen Abend nicht mehr im Drei-Minuten-Takt, aber es ist noch allemal Zeit, auf den nächsten Zug für einen Schnappschuss zu warten. Auf der anderen Straßenseite ist auch schon das Portal der reformierten Kirche zu sehen. Rundherum von Häusern auf dem Platz eingerahmt, wirkt sie fast schon ein wenig eingezwängt, dafür ragt der Kirchturm über alle Häuserdächer hinaus.
Der Seiteneingang steht schon offen und lädt dazu ein, schon hereinzukommen. Martin Stürtzer bittet aber noch um etwas Geduld, die Kasse wäre noch nicht aufgebaut und bis zum Einlass um 19 Uhr ist es auch noch etwas hin - die Tür geht erst einmal wieder zu. Dafür gehen vor der Kirche die Laternen an, es wird um diese Jahreszeit ja wieder früher dunkler. So stehe ich mit den anderen Besuchern, die nach und nach eintrudeln, nicht im Dunklen, bis der Einlass pünktlich um 19 Uhr beginnt. Viele haben ihr Ticket vorab im Internet gekauft, sie erhalten genauso wie die "Barzahler" einen Stempel auf die Hand. Noch ein Getränk zu zivilen Preisen mitgenommen, dann geht es eine steile Holztreppe hinauf zum eigentlichen Saal. Wem die Treppe zu steil ist, der darf aber auch den Aufzug benutzen.
Im Saal angekommen, eröffnet sich ein für Kirchenräume eher ungewöhnlicher Anblick. Stuhlreihen stehen rundherum um eine rechteckige Fläche in der Mitte, die fast wie eine Arena abgesenkt ist. Man könnte meinen, dieser Raum wäre für Konzerte gebaut worden und dient nur gelegentlich für Messen? Dem ist sicherlich nicht so, Martin Stürtzer ist hauptberuflich Organist und er dürfte sich gut mit dem Instrument auskennen, dessen Pfeifen die Rückwand des Saals dominieren. Heute bleibt die Orgel aber aus, im Mittelpunkt stehen die elektronischen Instrumente, die in der Mitte in drei Gruppen aufgebaut sind. Neben Martin Stürtzer werden auch noch Christian Stritzel und hhnoi spielen - ein pralles Programm für einen Abend, der kurz vor Mitternacht enden soll. Bis es so weit ist, ist es aber noch eine knappe Stunde, um am CD-Stand vorbei zuschauen, alte Bekannte zu begrüßen oder neue Bekanntschaften zu schließen.
Martin scheint Pünktlichkeit zu schätzen - so wie der Einlass um Punkt 19 Uhr war, so greift er eine Stunde später zum Mikrofon, um den ersten Musiker des Abends einzuführen. Christian Stritzel kannte ich bisher nur von einem Album, und das hat er zusammen mit Martin als "Sphäre 6" eingespielt. Heute nun also solo, und alleine das Instrumenten-Setup macht neugierig: Ein Tisch voller Effektgeräte, kein einziges Keyboard und in der Mitte ein Theremin, genauer gesagt das "Etherwave/Pro" von Moog. Nur gut drei Jahre hat Moog dieses Instrument gebaut, und gebrauchte Exemplare werden inzwischen für ein Mehrfaches des damaligen Neu-Preises gehandelt. Neben dem "klassischen Theremin-Sound" verfügt es auch über CV-Ausgänge, mit denen man andere Synthesizer steuern kann. Genau davon macht Christian Stritzel in den folgenden 45 Minuten Gebrauch: Sounds werden erzeugt, verändert, gespeichert und geloopt, und nochmals verändert. Es entfaltet sich ein mächtiges Klangbild, das mal an Wal-Gesänge erinnert, ein anderes Mal geisterhafte Stimmung verbreitet. Passend dazu dient die komplette Wand als Projektionsfläche: ein Sternenhimmel vermittelt Weite, mal ergänzen sich Meer und Rauschen, und dann hat man wieder das Gefühl, als würde die Meereswelle mit ihrer Urgewalt über uns hereinbrechen. Klänge und Visuals entfalten eine schwer in Worte zu fassende Tiefe. Zum Ende hin wird es etwas dynamischer, mir kommen dabei Assoziationen zu Hitchcocks "Die Vögel". Von Vogelschwärmen bleiben wir aber verschont, stattdessen dreht Martin das Licht wieder an und kündigt nach dem wohlverdienten Applaus eine Viertelstunde Pause an - quasi zur vollen Stunde geht's weiter.
Martin verzichtet darauf, sich selber einzuführen - das Ende der Pause ist einfach dadurch definiert, dass es wieder dunkel wird und er mit seinem Set beginnt. Auch der Beamer leuchtet wieder die komplette Rückwand aus, nur dieses Mal mit den Bildern aus der fahrenden Schwebebahn, wie er sie schon bei seinem Set in Detmold benutzt hatte. Und auch hier beginnt er mit Sequenzer-getragenen Titeln. Die Behauptung, er könnte mit Müh und Not zwei verschiedene Sequenzen aus seinen Synthesizern herausholen, ist jedenfalls eine schamlose Untertreibung. Rund und gut eingebettet in das restliche Klangbild tönen sie aus den Lautsprechern, während wir von einer Haltestelle zur nächsten schweben. Die Fahrt ist nicht ohne ihre eigene Dramaturgie: Das Tempo wird langsamer, die Stimmung dunkler und die Sequenzen verebben. Ganz so tief wie in Detmold geht es aber dieses Mal nicht ins Reich der Finsternis, stattdessen werden die letzten Minuten der Fahrt von rhythmischen Passagen begleitet. Auch heute war die Fahrt mit der Schwebebahn eine Reise wert, und nachdem es wieder hell wird, beschert sie Martin Stürtzer Rufe nach einer Zugabe. Gerne doch, für die bleibt das Licht jetzt an: live und ungeprobt liefert Martin noch einen Chillout-Titel hinterher.
Die nächste Pause muss etwas länger sein, denn es wird umgebaut. Martins und Christians Instrumente werden fix weggeräumt, damit Platz ist, den Tisch mit hhnoi's Modularsystem in die Mitte zu rücken. hhnoi ist ein Projektname von Marco Petracca, und wie auch schon bei Winnie im Garten ist er nicht alleine gekommen. Auf der anderen Hälfte des Tischs klappt Rachel Palmer ihren Notebook auf und wird live zu den Klängen passende Visuals erzeugen - über das von dort zum Beamer laufende Kabel möge man bitte nicht stolpern.
Eine wichtige Sache möchte Martin vor dem letzten Konzert des Abends noch los werden: Rachel und Marco sind nicht mehr nur musikalische Partner, sie haben Anfang der Woche geheiratet. Man könnte sagen, die kirchliche Trauung holen sie ein paar Tage später auf diese Weise nach - aber garantiert ohne den Hochzeitsmarsch. hhnoi's Stil lässt sich gar nicht so einfach beschreiben. Einer Einordnung in Kategorien hatte Marco sich im Gespräch verweigert: Er bezeichnet seine Musik ganz einfach als "elektronische Musik" und lässt sich dabei alle Freiheiten. Martin hatte in seiner Einführung von Marcos Sequenzen geschwärmt. Aber was ein kreativer Kopf ist, der macht gern auch einfach mal das genaue Gegenteil dessen, was man von ihm erwartet: Nach einem kurzen melodischen Intro, komplett ohne Tastatur gespielt, wird es minimalistisch. Einzelne Beats werden in den Raum geworfen und haben Zeit, mit allen Echos auszuklingen. Dazu variiert Rachel Schwärme wabernder Punkte und Linien zu einem hypnotischen Gebilde. Das passt aber wieder sehr gut zu einem "Ambient-Festival", gerade zu so vorgerückter Stunde. Dass er auch eine andere Gangart beherrscht, zeigt Marco in der Zugabe: Das Modularsystem will nur kurz neu gestimmt werden, dann sind auf einmal auch rhythmische und fast poppige Klänge möglich.
hhnoi's Zugabe beschließt den Abend, der gerade so eben noch am Freitag endet. Martin bittet noch kurz darum, leere Flaschen wieder mit nach unten zu nehmen, dann müsse er das nicht tun. Die Theke liegt ohnehin auf dem Weg zum Ausgang und ins Wochenende. So wie vor ein paar Stunden der Blick durch die Gasse auf die Kirche ging, so geht er jetzt in Richtung Fluss und Bahnstrecke. Unzweifelhaft werden einige Besucher noch ein wenig "weiterschweben" und mit Wohlgefühl an das heute Gehörte zurückdenken. Mag sein, dass dies heute mein erstes Event in der Sophienkirche war - es soll nicht das letzte gewesen sein.
Alfred Arnold