Drei Jahre ist es jetzt her, dass es Adventszeit ist und ich meinen Corsa nach Bochum-Grumme zum Gasthaus Goeke gelenkt habe, weil das traditionelle EM-Breakfast des Schallwende-Vereins ansteht. Daran ist - ausnahmsweise - nicht nur der Virus schuld, dessen Namen wir alle kennen. Anfang Dezember 2021 war Sylvia Sommerfelds Gesundheitszustand bereits so schlecht, dass für ihren Mann und jetzigen Vorsitzenden wirklich andere Dinge Priorität hatten. Diese traurigen Ereignisse sind inzwischen Geschichte, wenn auch nicht vergessen. Aber das Leben geht weiter, und auch Sylvia hätte gewollt, dass der Schallwende-Verein seine Arbeit in ihrem Sinne fortsetzt. So heißt es denn einen Tag vor dem dritten Advent: Frühstück, oder eigentlich Brunch, kombiniert mit elektronischer Musik.
Was einige langjährige Mitglieder verwirrt haben könnte: Das EM-Breakfast steigt dieses Mal an einem Samstag, und nicht wie sonst üblich am Adventstag selber. Die Zeiten sind eben noch immer alles andere als "normal", und ob sie jemals zu der 'Normalität' zurück kehren, die wir vor einigen Jahren noch kannten, das darf in Frage gestellt werden. Nicht umsonst ist "Zeitenwende" gerade zum Wort des Jahres gewählt worden, hier hat der neue Vorsitzende Klaus-Ulrich Sommerfeld ein goldenes Händchen bewiesen, als er das Motto der letzten Schallplatte ausgab...
...aber zurück zum Breakfast. Zur heutigen Ausgabe konnte Klaus mit "Martha Rabbit" ein Duo verpflichten, das seine Wurzeln und Inspiration zwar auch auf so große Namen wie Tangerine Dream zurück führt, das es aber in den Jahren seines Bestehens geschafft hat, seien ganz eigenen Stil daraus zu entwickeln. Michael Allert und Wolfgang Rohdenburg kommen aus Bremen - schon an dem "HB" zu erkennen, das auf den beiden Nummernschildern der beiden geräumigen Autos vor dem Eingang prangt. Und dass große Autos gebraucht wurden, wird beim ersten Blick auf die Bühne klar: Für einen Weihnachtsbaum, wie vor drei Jahren, als Taede Smedes spielte, ist heute leider kein Platz mehr. Beide haben sich ihre "Keyboard-Burg" aus je einem knappen Dutzend Synthies gebaut. In der Mitte stehen noch zwei Musiker-Racks, in denen die ganzen Kabel zusammen laufen. Aktuell kämpfen die beiden zusammen mit Dieter Klimaschewski noch gegen die zwei Hauptfeinde des Bühnentechnikers: Brummen und Rauschen. Welches Gerät ist der Schuldige? Eines nach dem anderen wird wieder ausgesteckt, bis die Störgeräusche verschwinden, dann kann man sich überlegen, ob es auch ohne geht oder es irgendwo anders angeschlossen werden muss.
Wo man so viel Aufwand getrieben hat, will man natürlich auch nicht vor einem halbleeren Saal stehen. Die Sorge vor Corona ist inzwischen zwar nicht mehr so groß, dafür grassieren gerade andere Grippe-Viren, und was auch beim Breakfast wieder der Fall ist: Es wird vermehrt kurzfristig gebucht. Etwa ein Drittel der Anmeldungen ist in den letzten beiden Wochen gekommen. Zusammen mit ein paar Abmeldungen wegen Krankheit sind es im Ergebnis knapp 45 Besucher. Das waren in vergangenen Jahren schon mehr, aber unter den gegebenen Umständen darf man damit sehr zufrieden sein.
Der offizielle Beginn ist für 10 Uhr angesetzt, aber das darf man als "cum tempore" verstehen: Die erste halbe Stunde vergeht mit Klönschnack, bis Klaus Sommerfeld entscheidet, dass jetzt Alle da sein müssten und zum Mikrofon greift. In seinen einführenden Sätzen wirft Klaus noch einmal einen Blick in die Vergangenheit: Vor einem Jahr hätte man eigentlich schon wieder ein Breakfast machen können, mit den damals üblichen 3G- und Hygieneregeln, aber da ging es Sylvia schon derartig schlecht, dass eine Organisation schlicht nicht möglich war. Sylvia ist unvergessen, aber in den vergangenen Monaten hat der Verein sich wieder so weit re-organisiert, dass nach Schallwelle und Grillfest auch wieder so ein Breakfast möglich ist. Wer danach noch auf den Weihnachtsmarkt möchte: Der ÖPNV in Bochum ist heute kostenlos! Aber bevor Martha Rabbit ihr erstes Set spielen, sollte erst einmal das Buffet eröffnet werden. Das konnte so gestaltet werden, dass der Unkostenbeitrag gegenüber dem letzten Mal nicht erhöht werden musste.
Auch wenn das aufgebaute Buffet für die Besucherzahl knapp wirken mag, es werden alle satt, weil Brötchen, Schinken und Rührei regelmäßig nachgefüllt werden. Eine gute halbe Stunde später ist es dann an der Zeit, das erste Set des Konzerts anzukündigen. Dessen Einleitung übernimmt der (für Einige noch neue) zweite Vorsitzende Andreas Pawlowski: Martha Rabbit machen schon seit 1978 selber Musik, aber wie das manchmal so ist, hat es bis zum ersten Album "Akaba" bis 2005 gedauert. Das hat aber so guten Anklang gefunden, dass seit dem vier weitere erschienen sind. Das neueste Werk, mit Namen "Phonolith", gibt es nicht nicht nur als CD, sondern auch auf Vinyl - ein lang gehegter Wunsch. Andreas fragt noch, woher der etwas "exotische" Band-Name kommt? Nun, meint Wolfgang, das wissen sie auch nicht mehr, es ist ja schon so lange her. Man ist nur sicher, dass Alkohol dabei im Spiel war...
...heute haben Michael und Wolfgang aber nur Kaffee und Tee getrunken, alles andere wäre der Performance auf der Bühne abträglich. "Uranus Freeway" vom aktuellen Album ist der Einsteiger. Ein treibender Rhythmus, kombiniert mit rockigen Elementen, macht direkt klar, dass "Martha Rabbit" sich nicht so einfach in eine Schublade stecken lassen. Zwar wird Tangerine Dream als eines der großen Vorbilder genannt, aber in den Jahrzehnten hat man noch viele andere Inspirationen aufgenommen. So wird die Gangart in folgenden, längeren Titel "Dysnomia" gleich wieder deutlich langsamer, und Dieter an der Technik lässt dazu ein paar grüne Lichteffekte durch den Raum gleiten.
Abwechslung ist heute Trumpf: Martha Rabbit spielen eine Auswahl von Titeln quer durch alle bisher erschienenen Alben, und mit einem Track aus "Pyrrhogaster" werden wir wieder aus den Träumen gerissen. Höre ich da Anflüge von Disco, lange genug sind die beiden ja zusammen, um auch die Welle noch mitbekommen zu haben? Danach springen sie gleich wieder in die Gegenwart, zum "Phonolith". Dessen Cover-Bild, eine Gesteinsoberfläche, hatte es Wolfgang angetan. Damit er sie legal nutzen konnte, musste er extra Mitglied beim "Mineralienatlas" werden. Ja, was man über die Jahre so an Interessen "links und rechts" neben der Musik einsammelt, kann schon mal etwas überraschend sein.
Ebenso unerwartet steigen beim nächsten Stück Gitarren und Flöten ein, beides aber vom Keyboard gespielt - es sind ja genug davon aufgebaut, dass man ein oder zwei davon für solche Sounds abstellen kann. Ein Notebook habe ich übrigens bei keinem der beiden im Aufbau entdeckt - Martha Rabbit scheinen eindeutig Hardware-Keyboards zu bevorzugen. Zusammen mit den restlichen Elektronik-Sounds erleben wir einen Ausflug in Richtung Progressive Rock - auch aus dieser Richtung hat Martha Rabbit in den letzten Jahrzehnten Einflüsse verarbeitet.
Wo wir gerade von Hardware sprechen: auch beim Verbreitung der Musik haben physische Medien noch ihren festen Platz. In der Pause zwischen beiden Sets öffnet Michael den großen Koffer mit CDs und LPs. Das Angebot des heutigen Tage: Die komplette Diskographie, inklusive "Phonolith" als LP, für gerade einmal 40 Euronen. Da ist es kein Wunder, dass dieses Paket sich guter Nachfrage erfreut.
Am Buffet wurde die ganze Zeit kontinuierlich nachgelegt, eine zweite Portion Rührei mit Schinken oder noch ein Teller Dessert sind also kein Problem, während sich Wolfgang und Michael für das zweite Set vorbereiten. In dem hat Wolfgang noch ein paar Minuten länger Pause, denn Michael ist als "Maralewo" auch bisweilen solo unterwegs. Bei "Dante's View" von Martha Rabbits Debüt-CD ist er natürlich wieder dabei, genauso wie bei "Lady of the second moon". Das ist übrigens aktuell der im Internet beliebteste Track von Martha Rabbit, Sounds und Beats teleportieren uns in die 60er zurück. Falls das dann etwas zu rockig war: Mit dem Folgetitel geht es wieder in die Gefilde der reinen Elektronik zurück, und bei "The Colourful Clouds Of.." meine ich sogar einige originale TD-Sounds aus den 80ern zu erkennen: EM-Puristen wären damit auch wieder versöhnt.
Wenn ein Programm so kurzweilig und abwechslungsreich ist, dann vergeht die Zeit wie im Flug und dass "Interstellar Visitor" eigentlich schon die Zugabe ist, bemerkt man gar nicht. Beim Schlusstrack wird es noch einmal richtig mächtig, und Wolfgang und Michael dürfen sich noch einmal richtig dicken Applaus abholen, bevor Andreas und erst Klaus uns in den Rest des Tages entlassen. Es ist eben ein Breakfast, die Uhr zeigt frohen Nachmittag an, und es ist Samstag - wer noch Geschenke einkaufen will, oder zum Weihnachtsmarkt möchte, hat jetzt noch reichlich Zeit dafür. Ansonsten wünscht man sich ein paar schöne Feiertage - aber bitte noch keinen guten Rutsch! Da ist ja noch "Hello 2023" mit Martin Stürtzer und Sphäre Sechs am 30 Dezember im PlaBo. Wer dort dabei sein will, sollte sich übrigens sputen - der Vorverkauf dafür läuft bisher sehr gut.
Alfred Arnold