Nach einem kurzen Intermezzo im Natlab scheint mit dem CKE eine dauerhafte Heimstatt für E-Day und E-Live gefunden worden zu sein. Auf E-Live an diesem Ort im letzten Herbst gab es nur positives Feedback, und auch die finanziellen Konditionen sind wohl so, dass Ron Boots dauerhaft mit dieser Location planen kann. Und Planungssicherheit für den Ort ist gut, denn dann kann man die Energien wieder auf andere Dinge konzentrieren, zum Beispiel die Konzerte und die Ausgestaltung des restlichen Tages.
Ein "Ausverkauft" konnte Ron dieses Mal nicht ganz verkünden: Ein kleines, zweistelliges Rest-Kontingent an Karten ging nicht im Vorverkauf weg. Auf seine Kalkulation dürfte das aber keinen nennenswerten Einfluss gehabt haben, und es hat umgekehrt den Vorteil, das kurz Entschlossene auch noch die Chance hatten, ein Ticket an der Tageskasse zu erstehen. Meines hatte ich bereits Ende Januar über die neu erstellte und deutlich moderner wirkende Seite des Groove-Labels erworben - seit einigen Monaten kann Ron Boots ja hundert Prozent seiner Zeit auf die Label-Arbeit verwenden, und ein Restart der Webseiten war das erste 'sichtbare' Ergebnis davon.
Obwohl das CKE mitten in Eindhoven liegt, ist das Parken für mit dem Auto Angereiste kein Problem: Eine direkt daneben gelegene Tiefgarage bietet genügend Platz. Dass diverse Stellplätze als für Firmen reserviert markiert sind, darf an einem Samstag ignoriert werden. Ein Tagesticket in der Tiefgarage kostet um neun Euro, das ist auch nicht teurer als in so mancher deutschen (Kaiser-)Stadt. Es ist lediglich zu beachten, dass auch wie am Natlab gilt: nur Kartenzahlung, kein Bargeld! Aus dem Untergeschoss der Garage aufgetaucht, sind es nur ein paar Schritte, bis das Haus mit dem markanten blauen CKE-Schriftzug in Sicht kommt. Ein erstes "Erinnerungsfoto", bevor man den Spielort betritt, muss natürlich sein, inklusive der geistigen Notiz, heute Abend beim Gehen eine weitere Aufnahme zu machen. Dann werden die drei stilisierten Buchstaben, die für "Centrum voor de Kunsten in Eindhoven" stehen, in sanftem Blau erstrahlen, und das Aufmacher-Foto für diesen Artikel liefern.
Der offizielle Veranstaltungs-Beginn war für 13 Uhr angekündigt. Wir treffen kurz danach ein, das Foyer des CKE ist allerdings schon um diese Zeit so voll, dass man meinen könnte, wir wären zu spät gekommen. Geöffnet ist bereits seit 10 Uhr, und wie ich aus Gesprächen mit Bekannten und Postings in den sozialen Netzen entnehmen konnte, sind viele Besucher bereits an Vortag angereist oder kombinieren diesen Tag sogar mit einem Kurzurlaub in der Gegend. Wie sonst auch kommt ein großer Teil der Besucher aus dem näheren Ausland, sei es Deutschland, Belgien, oder England. Anton Uraletz, der üblicherweise am weitesten angereiste Gast, ist heute leider nicht dabei. Die Gründe dafür sind bekannt und wir alle wünschen uns, dass es in nicht allzu ferner Zukunft wieder möglich sein wird!
Das erste Ziel im Foyer ist natürlich die Registrierung: Nach Abhaken auf der Liste bekommt man nicht nur ein Bändchen ums Handgelenk (heute im gediegenem Lila), sondern auch noch eine kostenlose CD. Diese enthält einen Mitschnitt des Konzerts, das Ron zusammen mit Rob Papen unlängst auf dem Antenna Festival in Belgien gegeben hat - ein spannendes Projekt, das sich aus der Idee eines Tribute-Tracks für Klaus Schulze mittlerweile entwickelt hat.
CDs, sowohl Neuerscheinungen als auch Klassiker, gibt es natürlich auch an den diversen Ständen in Hülle und Fülle zu erwerben. Der Stand von Groove ist natürlich der größte, aber daneben sind auch Spheric Music, Remys Label "Deserted Island Music" und Manikin Records präsent. Bei letzterem kann man heute erstmalig die Debüt-CD von KelMen erwerben, mit dem vielsagenden Titel "Results". Stefan Erbe und Rob Papen sind heute ebenso mit einem Stand mit von der Partie, und einige der auftretenden Musiker bieten heute ebenso die Möglichkeit, Tonträger direkt beim 'Produzenten' zu kaufen.
Was meine "private CD-Ausbeute" des Tages angeht? Die ist merklich kleiner in als in früheren Jahren. Das liegt aber weniger an einer gesunkenen Zahl von Veröffentlichungen, oder gar fehlendem Interesse, sondern eher daran, dass man das eine oder andere schon im Vorfeld als digitalen Download erworben hatte. Zugegeben, auch bei mir geht der Trend mittlerweile dahin, zum "Konsum" nur noch die immaterielle Version zu kaufen, und dazu vielleicht noch eine LP als Sammlerstück fürs Regal, so verfügbar. Wie lange die CD als Tonträger in der "Szene" noch Bestand haben wird, das wird die Zukunft erweisen. Ron Boots ist so oder so dafür gerüstet: Der Groove-Back-Catalog wird nach und nach auch digital verfügbar.
Ein großes Plus des Foyers im CKE: Direkt am Eingang befindet sich ein Bereich mit Tischen und Sitzplätzen sowie einer richtigen Bühne, ideal für den "Zusatz-Act", den Ron immer neben den im Saal spielenden Künstlern einlädt. Man erinnere sich zum Vergleich an das NatLab, wo dieser Pausen-Act sich in eine Foyer-Ecke zwängen musste, halb hinter einer Säule versteckt.
Heute füllt Gert Blokzijl diese Bühne aus. Gert ist in Hollands Norden zu Hause, und die meisten dort ansässigen EM-Musiker haben einen von der 'Eindhovener Schule' unterscheidbaren Musikstil entwickelt haben: etwas härter, weniger opulent und näher an dem, was die Pioniere der EM in den 70er Jahren geschaffen haben. Für diesen Tag hat Gert ein von Sequenzen dominiertes Set ausgewählt: warm und voll wogen diese durchs Foyer und erlauben es, einen Moment darin einzutauchen.
Im Moment ist es mir aber wichtiger, die vielen Bekannten wenigstens zu begrüßen - Gert wird in der großen Pause noch einmal spielen. Man sollte auch nicht aus den Augen verlieren, wie sich vor der Eingangstür zum großen Saal langsam eine Schlange bildet, und in selbiger einen der vorderen Plätze ergattern. Zwar hat man im Saal des CKE von allen Plätzen, einschließlich der Empore, eine gleich gute Akustik und ebenso gute Sicht auf die Bühne. Wenn man als Fotograf aber auch ein paar Nahaufnahmen mit nach Hause nehmen möchte, empfehlen sich die beiden vordersten Reihen.
Die ersten Aufnahmen des Tages von der Bühne haben natürlich keinen Musiker zum Ziel, sondern den Gastgeber des Tages. Es ist schon etwas her, dass ich Ron Boots bereits zu Beginn des Tages so entspannt und zufrieden lächeln gesehen habe! Offensichtlich ist bisher alles gut gelaufen und da ist auch mal ein kleines Spässchen auf Kosten der britischen Besucher erlaubt. Der Aufhänger ist dieses Mal die Tiefgarage neben dem CKE: Eine Einfahrt ist nur bis 22 Uhr am Abend möglich, eine Ausfahrt jedoch jederzeit - sofern man die Parkgebühr aufbringen kann. Und Ihr Briten seid ja nach dem Br... fast alle pleite!
So ein liebenswert gemeinter Seitenhieb hat bei Ron ja beinahe Tradition, man würde es ihm vermutlich inzwischen eher übel nehmen, wenn er keinen solchen machen würde. Aber jetzt zum ersten Act des Tages! Den Nachmittag könnte man auch mit "Die deutsche Session" überschreiben, denn er wird von zwei Künstlern aus Deutschland bestritten. Den Auftakt macht Bernd-Michael Land. In Deutschland ist er spätestens seit seinem Schallwelle-Preis vor ein paar Jahren eine feste Größe in der Szene, aber außerhalb seines Heimatlands vielleicht noch nicht ganz so bekannt. Heute könnte der Tag sein, an dem sich das ändert. Zustande gekommen ist dieses Konzert übrigens ganz unkompliziert: Bernd hatte meinen Bericht zu E-Live im letzten Herbst bei Facebook kommentiert, und von Ron kam die spontane Rückfrage, ob er nicht auch einmal in Eindhoven spielen wollte. So einfach kann das sein...
...ganz so einfach dürfte Bernd sicher nicht die Auswahl seines Bühnen-Setups gefallen sein, denn wer Fotos von seinem beeindruckenden Studio in Rodgau kennt, der wird ahnen, dass die Wahl da eher eine Qual gewesen sein muss. So sind es denn ein paar modulare Racks und Keyboards geworden, was eben so ins Auto passt, und im gegebenen Zeitrahmen aufbaubar ist. Aber auch damit wird Bernd etwas zaubern, ist er doch einer der kreativsten und unkonventionellsten Köpfe der Szene, der seine Musik auch gerne mal komplett gegen den Strich bürstet.
Zum Einstieg will er das Publikum aber wohl doch nicht gleich verschrecken: Flächen, Geräusche und gelegentliche Experimente dringen aus den von Bühnennebel umwaberten Geräten. Das gibt einen meditativen Einstieg, ganz so wie auf seinem aktuellen Album "99 Temples" mit Hans-Dieter Schmidt. Aus dieser Atmosphäre heraus entwickelt Bernd nach und nach mächtigere und wärmere Sounds, es wird beinahe schon melodisch. Passend dazu variiert Bas Broekhuis am Licht-Mischpult den Farbton. Ein großes Lob übrigens an dieser Stelle auch in dessen Richtung!
Ein Instrument, das man nicht häufig im Einsatz sieht, das Bernd jedoch sehr gerne spielt und heute mitgebracht hat: das Haken Continuum, ein Keyboard, das keine Tasten im engeren Sinn hat, sondern eine strukturierte, berührungsempfindliche Oberfläche. Bernds Finger entlocken ihm Vogel-Gewischter, während Tempo und Volumen sich fast zu einer wilden Jagd steigern. Die findet ein abruptes Ende für den nächsten Track, der wieder sphärisch-verträumt beginnt. Die Meditation wird aber nicht fortgesetzt, das Stimmungsbarometer schwenkt seinen Zeiger in Richtung 'filmisch'.
Die Bühnentechnik hat es zwischenzeitlich mit dem Nebel ein wenig übertrieben. Bernd versucht in einer kleinen Comedy-Einlage, ihn zur Seite zu wedeln, damit er wieder seinen Plan lesen kann, bevor es weiter geht. Jetzt sind Sequenzen an der Reihe, und diese erinnert mich spontan an Robert Schroeders Klassiker "Computer Voice". Bernd lässt seinem Spaß an der Sache nun freien Lauf und geht mit den Armen mit - dieser Track wird mit knapp 20 Minuten der längste dieses Auftritts werden, und einen Zwischenapplaus einheimsen. Auch Bernd muss sich danach erst einmal wieder "sortieren", bis er die Sequenz für das letzte Stück gefunden hat. Zu der improvisiert er dieses Mal nicht auf dem Continuum, sondern auf einem kleinen Handgerät, das ihm noch mehr Bewegungsfreiheit lässt.
Sowohl wir als auch Bernd sind sichtlich bewegt und mitgerissen von dem, was in der letzten Stunde auf der Bühne passiert ist: Ein Füllhorn an Stimmungen und Stilrichtungen, und jede davon mit großem Engagement und Kreativität vorgetragen. Bernd-Michael Land dürfte sich heute eine ganze Menge neuer Fans gemacht haben. Das kann man alleine daran abschätzen, dass seinem Kommentar 'Dann mach ich mal Platz für den Nächsten' energisch widersprochen wird. Eine Zugabe muss sein, und Bernd macht nahtlos dort weiter, wo er mit dem letzten Track aufgehört hat. Sind zum Schluss noch ein paar Streicher drin? So genau kann ich das nicht erkennen, aber auf jeden Fall sind das noch einmal zehn Minuten feinster, gegen den Strich gelegter EM, mit denen Bernd uns in die erste Pause entlässt.
Diese erste Pause ist von kürzerer Dauer, und es gilt wieder, sich frühzeitig für den zweiten Act des Tages anzustellen: Wie angedeutet, kommt auch der aus Deutschland. Martin Stürtzer ist durch seine Streaming-Konzerte schon seit einigen Jahren ein bekannter Name, und mit dem Hello 2023-Konzert im Planetarium Bochum hat Ron Boots ihn zum ersten Mal live erleben dürfen - und spontan für den E-Day gebucht. Das Konzert beginnt mit einer leichten Verspätung: Martin hat noch etwas nachzuholen, was im Februar nicht möglich war: Die Übergabe des Schallwelle-Preises für das beste Ambient-Album des Jahres 2022 an Erik Wøllo und Ian Boddy. Erik wird am späteren Abend noch die Bühne des CKE bespielen. Jetzt dürfen er und Ian noch ein paar kurze Fragen zur Entstehung dieses Albums beantworten. Ian tut das mit dem üblichen britischen Humor: Er hat Tracks von Erik übers Internet bekommen, dann...hat er diese wieder gelöscht und durch seine eigenen ersetzt. Naja, ganz so wird es wohl nicht gewesen sein! "Revolve" war nicht das erste Album von Erik uns Ian, und ich bin sicher, es wird nicht das letzte gewesen sein.
Nun aber Bühne frei für Martin Stürtzer: Wie schon in seinem Solo-Set in Bochum demonstriert er, wie man eine gute Stunde mit Ambient-Sounds und Sequenzen im Stil der Berliner Schule füllen kann, ohne sich zu wiederholen oder jemals langweilig zu werden. Das ist ein absolutes Kontrastprogramm zu Bernds Set, das von Wechseln geprägt war: Bei Martin läuft alles in einem Flow, nichts verändert sich spontan. Man könnte sagen, Martins Musik fließt, aber gleichzeitig ist sie auch in einem kontinuierlichen Fluss. In diesen Klängen kann man versinken, und Bas taucht dazu die Bühne die meiste Zeit in eher gedämpftes grün-blaues Licht. Aber man muss zu diesen Klängen nicht wegträumen, man kann auch aufmerksam verfolgen, wie Martin ein bestimmtes Thema immer weiter entwickelt, bis es seinen finalen Zustand erreicht hat. Dann wird es behutsam wieder herunter gezogen, um etwas neuem Platz zu machen. Das alles wirkt ungemein souverän und selbstverständlich. Aber daran, wie Martin zwischen den Geräten auf den beiden "über Eck" aufgebauten Racks hin- und herspringt, kann man erkennen, dass hinter so einem souveränen Auftritt harte Arbeit steht. Nur gut, dass er dieses Mal alle Schrauben an den Racks richtig fest gezogen hat - in einem Video hat er vor ein paar Monaten amüsiert erzählt, wie eine lose Schraube und ein abstürzendes Keyboard ihn einmal um die Nachtruhe gebracht haben.
Dieses Mal sitzt alles und wackelt nichts, es wackeln höchstens die Wände des Saals, als Martin grob in Teil drei des Sets anfängt, die PA des des CKE auf ihre Tiefton-Fähigkeiten abzuklopfen. Zum Abschluss noch eine Sequenz, die uns an Klaus Schulzes Klassiker "Crystal Lake" zurück denken lässt - ganz großes Kino und auch der zweite Act des Tages wird nicht ohne eine ausgiebige Zugabe von der Bühne gelassen.
Dass der Zeitplan jetzt schon um diverse Minuten hängt, ist nicht weiter schlimm, denn auf das zweite Konzert im großen Saal folgt bei E-Live und E-Day traditionell die große Pause, die auch ein wenig als Zeitpuffer fungiert. Falls Hunger auf ein "richtiges" Abendessen besteht, dann sind dafür jetzt knappe zwei Stunden Zeit, und in der Tat leert sich das Foyer des CKE merklich. Andererseits: Einen leeren Magen kann man auch mit einem kleinen Snack von der Catering-Theke beruhigen. Die werden ebenso wie Getränke gegen Bons ausgegeben, von denen man am besten gleich bei der Registrierung einen Zehnerstreifen erwirbt. Durch einen Kaffee wieder munter gemacht, kann ich jetzt Gert Blokzijls zweiten Auftritt genießen.
Wie schon heute Mittag ist Gerds zweites Set von warmen und kontinuierlichen Sequenzen getragen, und er zieht sein Programm in stoischer Ruhe und Souveränität durch. Das ist an diesem Ort keine Selbstverständlichkeit, denn hier herrscht im Gegensatz zum Saal reger Betrieb: Leute kommen und gehen, unterhalten sich an den Tischen oder essen und trinken beim Zuhören. Nicht jedem Künstler behagt eine solche Situation, in der er nicht die volle Aufmerksamkeit genießt, aber für Gert scheint das kein Problem zu sein. In dieser Form wäre er auch ein Kandidat für den großen Saal im CKE.
Mit diesem Pausenprogramm und den immer noch zahlreich vorhandenen Gesprächspartnern vergehen auch zwei Stunden wie im Fluge und es ist wieder an der Zeit, sich für den Einlass anzustellen. Nach zwei Künstlern aus Deutschland ist das erste Abendkonzert ein Heimspiel: Martin Peters und Rene de Bakker haben beide schon diverse Solo-Alben veröffentlicht, aber wenn sie zusammen als 'Beyond Berlin' spielen, dann passiert - wie Ron sich in seiner Einführung ausdrückt - noch etwas 'magisches', das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Also lassen wir einfach diese beiden Sound-Zauberer mit ihrer Show beginnen. Die aufgebaute Technik ist jedenfalls schon einmal schön anzusehen. Ein merkbarer Unterschied zu zum Beispiel Bernd-Michael Lands Setup: Die 'Modularen' sehen mehr nach 'Oldschool' aus, kaum blinkende Lämpchen, dafür mehr Knöpfe zum Drehen und Handbetrieb, so wie es eben in den 70ern war.
Rene und Martin machen aber schon nach wenigen Minuten klar, dass der Name 'Beyond Berlin' ernst gemeint ist. Der Einstieg ist noch klassisch mit Flächen und Mellotron-Sequenzen, weitere Teile werden behutsam nach und nach ergänzt, und eine zurückhaltende Sequenz bringt erstes Tempo in den Einsteiger-Track. Doch dann kommt der überraschende Bruch: Die Klänge werden emotional und dramatisch, das könnte jetzt auch der Soundtrack zu einem Film sein. Und ein paar Minuten später dreht sich wieder die Stimmung: Martin und Rene nehmen die Dramatik heraus und das Ergebnis könnte man mit 'Kammermusik im Stil der Berliner Schule' umschreiben. Ich habe schon seit langem nicht mehr etwas gehört, was die Berliner Schule auf so bruchlose Weise mit moderneren Elementen zusammen führt.
Diesen Weg geht das niederländische Duo in den restlichen Tracks weiter: Mal ist die Stimmung dunkel und drohend, mal etwas heller, und dann wieder melancholischer. Waren die beiden zu Anfang etwas statisch auf der Bühne und wirkten so, als würden sie die Musik eher überwachen als spielen, so verfliegt dieser Eindruck mit den Soli, die jetzt über die Basis-Sounds improvisiert werden. Am Ende bleibt der Eindruck eines spannenden und abwechslungsreichen Sets, das ein Exempel dafür ist, wie man 'beyond' Berliner Schule gehen kann, ohne sie zu verraten. Und es ist Ehrensache, dass Rene und Martin noch zu einer Zugabe gedrängt werden. Als wollten sie beweisen, dass hier wirklich live gespielt wird: Der erste Anlauf misslingt, ein kurzes 'Sorry', wir fangen noch einmal von vorne an. Im zweiten Anlauf funktioniert alles, und die Impros haben noch einmal deutlich mehr Gewicht und Wärme - der perfekte Abschluss!
Trotz der Zugabe ist Rons Zeitplan nicht aus den Fugen geraten. So hat er vor dem letzten Konzert noch ein wenig Zeit, allen Beteiligten für den Einsatz zu danken. Ein ganz besonderer Dank mit Umarmung geht an Stephan Whitlan, der nicht nur Musiker, sondern auch Rons 'Lieblings-Roadie' zu sein scheint. Er ist dafür extra über den Kanal nach Eindhoven gekommen, obwohl er heute überhaupt nicht gespielt hat!
Viel abzubauen hatte Stephan in der kurzen Pause übrigens nicht: Beyond Berlin's Set steht noch auf der Bühne, mit Ausnahme des hoch aufragenden modularen Systems. Es wäre dem Projektor und der Leinwand im Weg gewesen. Was mir erst jetzt bewusst wird: Alle bisherigen Acts des Tages sind ohne Visuals ausgekommen. Ich habe auch keine vermisst, die Musik alleine war in der Lage, die Botschaft zu überbringen. Erik Wøllo, der den krönenden Abschluss dieses Tages liefern wird, möchte jetzt aber nicht nur den Ohren, sondern auch den Augen etwas anbieten.
Die Visuals bleiben aber abstrakt genug, dass man sich zu Eriks Musik sein eigenes 'Kopfkino' machen kann. Als wollte er beweisen, dass er den Preis für das beste Ambient-Album zu Recht erhalten hat, spannt er mit seinen Sounds und der Gitarre ein weites und atmosphärisches Panorama auf: Gerade so, wie man sich das Land vorstellt, in dem Erik zu Hause ist. Frieren muss dabei aber niemand, denn gerade die live gespielte Gitarre bringt in die Landschaften die Wärme, die Eriks Musik so sympathisch macht.
Über das ganze Konzert habe ich angestrengt überlegt, woran mich die Form von Eriks Auftritt erinnert hat. Und als hätte er meine Frage erahnt, gibt er im Schlusstrack eine Antwort auf seine Weise: Eine Hommage an den im letzten Jahr verstorbenen Manuel Göttsching. Klar erkennbar hören wir hier 'Sunrain', aber dass es eben keine reine eins-zu-eins Kopie davon ist, macht diesen Tribute um so wertvoller. Mit diesem Überraschung ist es Erik gelungen, noch einmal ganz zum Schluss ein emotionales Highlight zu setzen. Und auch hier ist klar, dass der Versuch, einfach still und bescheiden von der Bühne zu verschwinden, nicht vom Publikum akzeptiert wird: Da geht doch noch etwas! Die Zugabe ist wieder eine Eigenkomposition von Erik, und ist deutlich rockiger und freier als die bisherigen Tracks. Fast scheint mir so, als hätte Erik sich von der Stimmung im Saal dazu anstiften lassen.
Dieses Finale des heutigen E-Day ist so gut, dass es auch Ron noch einmal auf die Bühne zieht - nicht nur um Erik zu umarmen, sondern einige allerletzte Worte ans Publikum zu richten: Kommt alle gut nach Hause, und wir sehen uns im Herbst wieder. Ein paar Acts sind gerüchteweise schon gebucht, und es wird aller Voraussicht nach wieder hier im CKE sein. Man muss natürlich immer vorsichtig mit Voraussagen sein - gerade wenn sie die Zukunft betreffen - aber es sieht im Moment so aus, als hätte Ron nach den Wirrungen und Irrungen um Corona, die Schließung von "De Enck" und das Intermezzo im Natlab jetzt eine auf Jahre hinaus stabile Heimstatt für E-Live und E-Day gefunden.
Beim Herausgehen verabschiede ich mich nicht nur von den Bekannten, die noch da sind, es ist auch noch Zeit für die eine oder andere Begrüßung an diejenigen, mit denen ich in den letzten Stunden keine Zeit gefunden habe, zu sprechen. Und es wird sicher auch den einen oder anderen guten Bekannten gegeben haben, mit dem ich dieses Mal kein Wort gewechselt habe. Dafür bitte ich an dieser Stelle ausdrücklich um Verzeihung, und ich werde das bei nächster Gelegenheit nachholen - spätestens im Herbst, wenn Ron Boots zu E-Live 2023 im CKE in Eindhoven einlädt. Eine EM-Szene ohne diese beiden festen Termine im Jahr ist einfach völlig unvorstellbar.
Alfred Arnold