Norbert Sarrazin vom Künstlerpack Solingen ist schon ein schlauer Fuchs: 2020, mitten in der Corona-Pandemie, wo live wenig bis gar nichts ging, schlug er den Regeln ein Schnippchen und ließ die Musiker kurzerhand vor und nicht in den Ateliers der Güterhallen auftreten. Auf diese Weise galt das ganze als 'Strassenmusik', und die Auflagen waren weniger streng.
Das restliche Konzept hat sich auch über die Pandemie hinaus bewährt: Ein 'kleines' Event mit nur einem Künstler und überschaubarem Aufwand, und das nicht am abends, sondern am Nachmittag. So wird es auch bei weiterer Anreise nicht so spät - gut wenn es an einem Sonntag ist und man am nächsten Tag wieder arbeiten muss. Gleich drei solcher 'Picknick-Events' mit elektronischer Musik stehen in diesem Sommer auf dem Programm. Den Auftakt machen Till Kopper und Hajo Liese, die man zusammen als EL-KA eher selten auf der Bühne sieht. Denn während Hajo in Düsseldorf quasi 'um die Ecke wohnt', ist es für Till immerhin ein Trip von Deutschlands Südwesten nach NRW und zurück.
Heute ist das erste Mal in diesem Jahr, dass ich zu den Güterhallen komme. Hier arbeiten Künstler nicht nur, sie wohnen auch hier, und der Ort ist in steter Veränderung. Kunstwerke werden auf dem ehemaligen Bahnsteig oder der Wiese ausgestellt und den Elementen ausgesetzt: Nichts währt ewig, ein immer währender Umbruch. Neu ist auch eine Baubude, die nicht nur wegen ihres grünen Anstrichs den Spitznamen "Peterwagen" bekommen hat: Der Name erinnert auch an den im vorigen Jahr verstorbenen Peter Amann, Mitgründer der Güterhallen und langjähriger Inhaber eines Ateliers mit Werkstatt. Seine Kunstwerke, die Alltags-Gegenstände oder Schrott auf originelle Weise verarbeiten, sind auch hier auf EMpulsiv schon öfters gezeigt worden.
Norbert ist bereits emsig dabei, die 'Open Air Bühne' vorzubereiten. Stühle wollen auf der Wiese verteilt werden, und ein Transparent des Haupt-Sponsors muss gut sichtbar aufgehängt werden. Wie meistens in den Güterhallen, ist der Eintritt frei, es wird aber um eine Spende gebeten. Till und Hajo sind währenddessen dabei, die letzten Kabel zu stecken und 'Verdrahtungsfehler' zu finden. EL-KAs Musik orientiert sich an der traditionellen Berliner Schule, deshalb dürfen es gerne auch mal ein paar Geräte mehr auf dem Bahnsteig sein, der heute als Bühne dient. Ein schöner 'Zug': Alles ist so herum aufgebaut, dass keine 'Mauer' zwischen Musiker und Publikum entsteht.
Der 'Peterwagen' spielt übrigens heute eine wichtige Rolle: Aus ihm heraus werden Getränke verkauft, sowohl warme als auch gekühlte. Ich habe kein Thermometer dabei, aber die Temperaturen an diesem Juni-Nachmittag könnten auch im Schatten die 30-Grad-Marke erreicht haben. Auch deswegen sind besonders die hinteren Stuhlreihen beliebt, denn die werden durch die Bäume auf der Wiese beschattet. Eine gute Idee
war auch, etwas Sonnenmilch mitzubringen.
Die Wasserpistole, mit der Norbert während seiner Einführung herumspielt, dient übrigens nicht der Abkühlung des Publikums, sondern der 'Zurechtweisung' von Radfahrern. Das Stück des Weges, der zwischen Bahnsteig-Bühne und Wiese liegt, wurde zwar mit Flatterband abgesperrt, aber bisweilen verirrt sich dann doch mal ein Radler dorthin. Kinder nehmen die unerwartete Dusche mit Humor, Erwachsene reagieren bisweilen eher irritiert...
...jetzt aber endlich zur Musik. Als Einstieg hören wir synthetische Grillen und Frosch-Gequake. Das gibt uns zumindest die Vorstellung, am kühlenden Wasser eines Sees zu sitzen. Nach ein paar Minuten setzt die Sequenz ein, ganz so wie man es von 'klassischer 70er-Jahre Mucke' kennt und liebt. Wobei der Stil eher in Richtung Schulze als TD geht. So oder so, der Einstieg funktioniert, und das Konstrukt gewinnt langsam an Fahrt, erreicht irgendwann einen Höhepunkt, um nach einer standesgemäßen Spielzeit im zweistelligen Minuten-Bereich wieder mit einem Frosch-Konzert zu enden. Dabei scheint Hajo der 'Schrittmacher' zu sein, während Till die Flächen und Improvisationen darüber legt.
Track Nummer zwei startet direkt mit einer fetten Sequenz und Mellotron-Sounds - Till und Hajo haben sich warm gespielt, und finden beinahe selber nicht wieder aus dem Flow heraus, in den sie sich gespielt haben. Sollte das die beiden ein wenig ausgepowert haben? Erst einmal einen Moment verschnaufen, einen Schluck trinken (sehr wichtig bei diesem Wetter!), und ein erste Anlauf für Track Nummer drei will noch nicht klappen: Einige Instrumente müssen noch einmal nach-gestimmt werden.
Norbert nutzt diese Pause, um vom Förderverein und dem Konzept der Güterhallen zu erzählen. Die Ateliers sind übrigens geöffnet! Wer also nach dem Konzert noch etwas Zeit hat, kann nicht nur den Ohren, sondern auch den Augen noch etwas 'Input' geben. Und ganz wichtig: Jetzt geht der Sammel-Hut herum. Dem Wetter angemessen ist es heute ein leichter Sommer-Strohhut, und auch der wird voll. Fast niemand aus dem Publikum lässt ihn vorbeigehen, ohne einen angemessen Betrag zu geben.
Währenddessen haben Till und Hajo die - im doppelten Sinn - passende Stimmung gefunden. Meditative und experimentelle Sounds dominieren den letzten Track - ja, in der Tat, die knappe Stunde ist wie im Flug vergangen. Geht da noch etwas? "Einen kriegen wir vielleicht noch hin", meint Till. Aber gerne doch, versucht es, wir haben noch Zeit! Die Zugabe wird dann wieder etwas flotter, und gibt dem ersten EM-Sommer-Picknick einen beschwingten Abschluss.
Was für einen Eindruck die beiden Musiker machen? Ein wenig Erleichterung, dass alles geklappt hat, ist sicher dabei, aber es überwiegen Spaß und Zufriedenheit. Das gleiche lässt sich vom Publikum sagen. Auch wenn es für Alle eine schweißtreibende Erfahrung war: Das erste EM-Sommer-Picknick des Jahres 2023 war ein Erfolg, und es macht Lust auf die beiden noch anstehenden Termine im Juli. Mit Wellengärtner und Jingoba Electric konnte Norbert zwei noch nicht ganz so bekannte Namen verpflichten. Zum Abschluss werden Detlef Keller und Michael Menze uns mit ihren Klängen verzaubern. Man sieht und hört sich - in oder vor den Güterhallen!
Alfred Arnold