Es ist erfreulich zu sehen, dass auch das Team um Frank Gerber und Hans-Hermann-Hess nach den turbulenten letzten Jahren in puncto 'Spielort' wieder zur Kontinuität gefunden hat: Die 2023er-Auflage der Electronic Circus Summer Edition findet auf dem gleichen Bauernhof in Borgholzhausen statt wie im Vorjahr.
Borgholzhausen liegt auf halbem Weg zwischen Bielefeld und Osnabrück, und auch wenn es auf der Karte nach "ganz weit draußen" aussieht: der Ort ist auch ohne Auto mit vertretbarem Aufwand zu erreichen. Borgholzhausen verfügt über einem Bahnhof, von dem man es zu Fuß in ca. 20 Minuten zum Hof schafft.
Für mit dem Auto Anreisende ist im Vorfeld wieder eine bebilderte Anfahrtsbeschreibung verschickt worden. Der Parkplatz liegt nämlich eine Straße weiter im Silo einer Biogasanlage. Deren Adresse habe ich dieses Mal direkt ins Navi eingegeben, und werde ohne Umwege zum freundlichen Einweiser geführt - bitte eng parken und beide Seiten nutzen, denn es wird dieses Jahr voller! Die 2023er-Ausgabe der Party kann sich also über einen Besucher-Zuwachs freuen. Das sind gute Nachrichten für die Szene, und zu einem guten Teil dürfte das auch an dem Lineup liegen, das das EC-Team für diesen Tag zusammen gestellt hat.
Wegweiser zeigen den Weg vom Parkplatz zum Hof, oder man folgt einfach den anderen Besuchern. Vom Hinweisschild für eine 70er-Jahre Party sollte man sich nicht verwirren lassen: Dieser Hof wird öfters für Feiern vermietet. Die fest eingebaute Bar, Werbeplakate für Bier und Hochprozentiges, und nicht zuletzt ein gelbes Warnschild am Eingang weisen darauf hin, dass an diesem Ort öfters auf gepflegte Weise abgestürzt wird.
Vom Alkohol werde ich in diesem Jahr leider lassen müssen, denn ich muss heute Abend wieder nach Hause fahren. Das zur Zeit in Halle stattfindende Tennisturnier hat dafür gesorgt, dass alle Hotels und Pensionen in der Umgebung schon länger im Vorfeld ausgebucht waren. Nach den Erfahrungen im Vorjahr, wo der Zeitplan gut eingehalten wurde, hege ich aber die Hoffnung, um kurz nach zehn Uhr wieder fahren zu können, und so nicht erst am frühen Morgen wieder in Aachen anzukommen.
Der erste Anlaufpunkt ist natürlich die Anmeldung: Nach Abhaken auf der Liste bekommt man sein Bändchen und kann auch gleich ein paar Chips erwerben, die am Grill und der Bar als Zahlungsmittel dienen. Die ersten Steaks und Würstchen nehmen auf dem Grill bereits eine reife Farbe an, das spare ich mir aber für den späteren Nachmittag auf - jetzt muss ich erst einmal etwas trinken, das Wetter ist nämlich wirklich heiß. Die Gewitter der letzten Tage und welche davon es in die Nachrichten geschafft haben, sind neben der Musik auch ein Gesprächsthema unter den Besuchern. Rechtzeitig zum heutigen Event stehen die Zeichen aber wieder auf Sommer und Sonne.
Man sollte übrigens nicht sein ganzes Geld in Chips umsetzen, denn an den aufgebauten CD-Ständen gelten sie nicht. Und das Angebot an CDs ist gut und reichlich: Lambert ist mit seinem Spheric-Label vertreten, und weil Mario Schönwälder mit Filter-Kaffee heute spielen wird, ist natürlich das CD-Sortiment von Manikin Records in der Auslage. Wo Mario einen Stand hat, ist meistens auch Kilian nicht weit. Der Syngate-Stand ist immer einen Blick wert, egal ob man die Alben gleich physisch erwirbt oder am nächsten Tag virtuell als Download. An dieser Stelle wünschen wir Kilian übrigens weiterhin gute Genesung nach der gut überstandenen Operation! Heute sehen wir aber auch CD-Stände von etwas selteneren Gästen: Volker Flottmann mit Projekt Gamma ist immer noch ein fleißiger Produzent, der aber eher selten auf Veranstaltungen gesehen wird. heute ist er da, und wer die drei neuesten Alben zusammen erwirbt, bekommt sie zum Paketpreis.
Über all diesen Eindrücke sollte man natürlich nicht vergessen, dass man sich rechtzeitig einen guten Platz vor der Bühne sichert. Der ausgehängte Zeitplan verspricht die Begrüßung mit erstem Konzert um 14 Uhr, und genau um diese Zeit ergreift Frank auch das Mikrofon. Viele Worte will er gar nicht machen, denn das Programm des heutigen Tages kann man ganz einfach zusammen fassen: Gutes Wetter, guten Appetit, gute Laune! Und der erste Musiker des Tages würde sich gerne auch noch einmal selber vorstellen.
Tilo Voighthaus ist als die eine Hälfte von Coral Cave kein Unbekannter. Seit einigen Jahren gehen er und Erik Matheisen aber eigene Wege. Erik sitzt übrigens mit im Publikum, die beiden reden also durchaus noch miteinander.
Wie Tilo erzählt, hat sich für ihn in den letzten Jahren die Arbeitsweise deutlich verändert: Weg von der Keyboard-Burg, hin zur Digital Audio Workstation, und auch bei der Veröffentlichung setzt er seit einigen Jahren auf Bandcamp statt auf physische Alben. Dementsprechend passt sein Setup aus Notebook und USB-Keyboard auf einen einzelnen Ständer. Da seine Solo-Alben noch nicht so bekannt sind, wird er in der folgenden einen Querschnitt aus diesen spielen. Den Einstieg macht 'Eye of the Past' vom 2020er-Album 'X³': Schöne Piano-Passagen, ein durchgehender, aber nicht dominierender Beat: Das ist eher ein Titel, wo eher der Fuß mitwippen will, als dass man dabei wegträumt, und er gibt auch die Richtung für den Rest des Auftritts vor.
Tilo lässt es sich nicht nehmen, vor jedem Titel noch eine kleine Geschichte zu erzählen: 'Backyard in Twilight' stammt von dem 2022er-Album 'Back to the Roots', wo Tilo noch die Sounds der 80er neu aufgegriffen hat. Speziell dieser Titel hat einem seiner Fans so gut gefallen, dass daraus die gut doppelt so lange 'Neil-Maxi-Version' geworden ist, und so dürfen wir die klassischen PPG-Sounds, auf die eine Berliner Band in den 80ern gerne zurück gegriffen hat, heute noch einmal besonders ausgiebig genießen. Noch etwas weiter geht es mit 'Generation Y' in die (eigene) Vergangenheit zurück, nämlich in die Zeitspanne von 1979 bis 1984, wo man gerne einmal eine ganze LP-Seite mit einem einzigen Titel gefüllt hat. Und die gut 20 Minuten des dritten Titels nutzt Tilo auch für einen Stimmungswechsel. Der Einstieg bietet eine Prise Dramatik, und von Rhythmus fühle ich mich an 'Dolphin Dance' erinnert. Der Rhythmus läuft irgendwann aus, und das Stück geht in einen ruhigeren Teil über.
Das ruhigere Ende ist auch ein guter Übergang zum nächsten Titel: Bei 'Under The Surface' geht es unter Wasser - passender weise beginnt es mit einem Sprung in selbiges. Das ist schön warm: Ambiente Teile wechseln sich mit abgerundeten Rhythmen ab und lassen das Klangbad zu einer sehr angenehmen Erfahrung werden. Heute hat Tilo übrigens die Teile 4,5, 8 und 9 vom gleichnamigen Album zu einem Titel vereint. Und mit dem sich daraus ergebenden Langläufer wäre eigentlich die geplante Konzertlänge bereits erreicht? Aber Frank ahnt es schon: "Ich fürchte, es muss noch etwas hinterher kommen!" Und in der Tat, eine Zugabe hat Tilo natürlich noch auf der Platte bereit: 'Conviction' ist der Schlusstitel von seinem aktuellen Album 'Private Investigation'. Das hat er als Soundtrack zu einer fiktiven Krimi-Episode angelegt. Und weil in einem guten Krimi der Verbrecher zum Schluss immer gefunden und verurteilt wird, endet auch dieses Album mit einer Verurteilung. Die Stimmung ist beschwingt und fröhlich, der Krimi hat ebenso wie dieses erste Konzert ein Happy End. Tilo Voigthaus hat mit dieser Zusammenstellung den perfekten Einstieg in den Tag gefunden, und wer das noch einmal nachhören will: Die heute gespielten Titel werden in den nächsten Tagen auch noch einmal als eigenes Album auf Bandcamp veröffentlicht.
Ein paar Dinge möchte Frank noch ansagen, bis er uns in die erste Pause entlässt: Zum einen hat draußen ein weiterer CD-Stand aufgemacht! Stephen Parsick ist auch ein Gast, den man nicht auf jedem Event sieht, dafür ist er heute um so willkommener. An seinem Stand können auch Fans von Vinyl fündig werden. Die zweite Info: Ort, Termin und Lineup für den Electronic Circus stehen fest, der nach vier Jahren (Zwangs-)Pause wieder stattfindet. Von Detmold zieht der Zirkus weiter nach Hamm, und mit u.a. Steve Baltes und den Strömen ist er hochkarätig besetzt. Und die dritte Nachricht, natürlich die wichtigste von allen: Es gibt Eis an der Bar, natürlich auch gegen Chips und nicht gegen Bargeld!
Während wir uns mit einer Portion Eis Abkühlung verschaffen, muss das Team vom EC noch ein wenig arbeiten. Zum einen will Tilos Setup abgebaut, und zum anderen das vom zweiten Act aufgebaut werden. Fabian Laute ist nämlich gerade erst in Borgholzhausen eingetroffen. Sein Name dürfte den allermeisten in unserer Szene noch völlig unbekannt sein. Aber neue Namen in die Szene hinein zu bringen, ist ja gerade ein 'Markenzeichen' des EC-Teams. Und dass Fabian Laute kein absoluter Neuling ist, kann man alleine schon daran erkennen, mit was für einem Setup er anrückt: ein großer Bühnenkoffer mit Rollen, in dem das ganze Setup bereits vorverkabelt steckt. Es reicht, ein paar weitere Halter auszuklappen und das ganze mittels Keyboard-Ständer auf eine ergonomische Arbeitshöhe zu bringen. Dann wirft man Lutz in der Technik-Ecke ein Kabel mit dem fertigen Stereo-Mix zu und das zweite Konzert des Tages kann nach Zeitplan beginnen.
Nun wissen natürlich auch Frank und Hans-Hermann, was für ein Publikum sie auf der EC-Party haben und dass sie bei neuen Acts die Brücken zur 'traditionellen' EM nicht völlig abbrechen können. Fabian beginnt seinen Auftritt mit - Meeresrauschen und viel Handarbeit. Ähnlich wie beim
Live-Looping entwickelt er einen Sound nach dem anderen, variiert und perfektioniert ihn, um in dann als Grundlage für die nächste Schicht zu nehmen. Das erinnert an die Dub-Sets, wie Martin Stürtzer sie öfters spielt, und es ist mit viel Handarbeit verbunden: Alleine der Fleiß und die Fingerfertigkeit, mit der Fabian Laute seinen Aufbau bedient, sind beeindruckend. Nach und nach baut er sein Klangwerk auf, ohne es dabei irgendwie langatmig oder eintönig werden zu lassen.
Grob zur Hälfte des Auftritts sind alle Kanäle gefüllt und es ist an der Zeit, die Gangart zu wechseln: Von einem Marsch wechselt Fabian zu einem Sturmlauf, vom Dub zum Dance. Atempausen gönnt er sich und uns dabei so gut wie gar nicht: Ich könnte mir vorstellen, dass er auf diese Weise einen Tanzschuppen befeuert. Aber auch hier auf der Party funktioniert es, einfach weil er uns Schritt für Schritt mitgenommen hat. Ich finde im Anschluss niemanden, der diesen Neuzugang als unpassend empfunden hätte, das EC-Team hat also mal wieder den richtigen 'Riecher' gehabt. Im Gegenteil, Fabian und sein Setup sind auch nach dem Konzert noch eine Weile von einer dichten Traube von Interessierten umlagert, die Fragen zur Musik und zur Technik haben. Und ich habe das klare Gefühl, dass wir nicht zum letzten Mal etwas von ihm gehört haben werden.
Fabians Konzert als zweites an diesem Tag einzuplanen, war eine gute Idee: Nicht nur ist genug Zeit, um die Bühne für die letzten beiden Konzerte des Tages vorzubereiten, wir alle haben die Gelegenheit, nach diesem furiosen Set ein wenig 'abzuchillen' und uns auf den Auftritt von Filter-Kaffee einzustellen, der (vermutlich) völlig anders sein wird. A propos Kaffee: Den gibt es natürlich auch an der Bar, zusammen mit einer reichhaltigen Auswahl an selbst gebackenem Kuchen.
So schnell wie Fabian aufgebaut hat, so schnell hat er seinen 'Musikkoffer' auch wieder verpackt. Frank Rothe und Mario Schönwälder haben also auch noch etwas Zeit, um ihr Setup einer letzten Prüfung zu unterziehen. Wobei Mario - wie immer - der Schalk im Nacken sitzt: Auch einer Bierflasche lassen sich Töne entlocken, und die Stimmung erfolgt durch schrittweises Konsumieren des Inhalts. Letzten Endes behält aber doch der Durst die Oberhand, und Filter-Kaffees Auftritt wird nicht durch akustische Einlagen bereichert werden. Wir wären also bereit, allein - wo ist unser Ansager? Mario versucht sich mit einer Durchsage: "Herr Gerber möge sich sofort zum Gate begeben" - denn die beiden Piloten wären bereit.
Das lässt Frank sich natürlich nicht zweimal sagen, und erzählt in seiner Einführung noch einmal kurz, wie einfach und unkompliziert es zur 'Buchung' dieses Auftritts gekommen ist. Dann übergibt er das Mikro an Mario: Das Programm in der folgenden Stunde wird mit Tracks des kommenden Albums '106' gefüllt sein, und ist demzufolge mit 'Road to 106' überschrieben. Für diejenigen, die Filter-Kaffee zum ersten mal sehen und hören: Kaffee wurde und wird bei der musikalischen Zusammenarbeit reichlich konsumiert, daher der Name (der natürlich auch auf eine wichtige Baugruppe in analogen Synthesizern anspielt). Und die Namen der Alben: Das sind einfach die in früheren Jahrzehnten gebräuchlichen Bezeichnungen für Filtertüten unterschiedlicher Größen. Wir wünschen eine angenehme Reise auf der Straße zur 106!
Die Reise beginnt minimalistisch und meditativ. Dazu lässt die Technik die Sterne an der Decke kreisen und hüllt das Musiker-Duo in dichten Bühnennebel. Die Verständigung zwischen Frank und Mario klappt aber trotzdem, und sie sind nach wenigen Minuten im Flow. Der wird aber nicht endlos ausgewalzt, härtere Sounds am Ende setzen dem ersten Track ein Ende. Die Pause zum Umkonfigurieren nutzt Mario, um den Titel des ersten Tracks zu nennen: 'Desert Oath', und der stammt von Frank. Weiter geht es mit einem Titel von Mario, der noch keinen endgültigen Namen hat - nennen wir ihn für heute 'Circus 2'. Er steigt mit Flächen ein, wie man sie von Mario bei BK&S kennt, dann kommt eine schöne Sequenz dazu, mit einer darüber gelegten, improvisierten Melodie - ganz in der Tradition der Berliner Schule. Der Kontrast zum vorigen Konzert könnte nicht größer sein.
Titel Nummer drei stellt "eine elektronische Winterlandschaft im Sommer" dar. Wenn das vertraut klingt: völlig richtig, einen solchen Untertitel hatte Klaus Schulze seinem Album 'Mirage' gegeben, unter dem Eindruck des Todes seines Bruders. Im letzten Jahr ist nun auch Klaus in von uns gegangen, und dieser Titel ist ihm und dieser Phase aus seinem Schaffen gewidmet: Kühl, zurückhaltend und etwas melancholisch kommen die Sounds daher. Es ist der Moment, noch mal ein wenig über die 'Abgänge' im letzten Jahr nachzusinnen, und zur Erkenntnis zu kommen, dass alles in unserem Leben von endlicher Dauer ist. Sollte man der Vergangenheit nachhängen, oder doch besser das Hier und Jetzt genießen, ohne dabei den Weg zu vergessen, auf dem man hier angekommen ist? Das ist eine Frage, die man sich immer wieder stellen kann, und Mario gibt nach diesem Titel auf seine Weise eine Antwort dazu: Wie es eigentlich zu diesem Projekt gekommen ist. So recht 'geplant' war das eigentlich nie, Frank und Mario hatten schon früher öfters zusammen gespielt, aber mehr oder weniger nur für den 'Eigenbedarf'. Irgendwann haben sie sich die Aufnahmen dieser Sessions mal wieder angehört und festgestellt, dass die Titel eine Veröffentlichung und einen Projekt-Namen verdienen. Das Leben verläuft eben nicht in geraden Bahnen, manchmal 'ergeben' sich die Dinge einfach.
Im letzten Titel - wieder von Mario und mit dem originellen Titel 'Circus 1' - wird es wieder etwas flotter. Die Sequenzen geben noch einmal Gas, und auch Frank geht bei den Melodien ein wenig aus sich heraus. Ansonsten wirkt Frank auf der Bühne ja immer recht kontrolliert uns stoisch. Mario scherzt zwischendurch auch mal darüber, dass Franks Blick über die Brillengläser hinweg schon ein wenig tadelnd wirken würde, wenn er mal wieder 'daneben gegriffen' hätte, aber in diesen Momenten merken wir, dass er genauso mit dem Herzen dabei ist wie sein Partner bei 'Filter-Kaffee'. Dicker Applaus belohnt Titel Nummer vier, und wie Mario richtig sagt, ist das ja das Brot des Künstlers.
Mario hat lange an der Universität gearbeitet, und er hat dort noch etwas gelernt: Man muss beim Sprechen Pausen machen, um auch die anderen zu Wort kommen zu lassen. Und sei es nur, dass jemand 'Zugabe' rufen kann! Rein zufällig hätten wir auch noch einen Titel, mit Namen 'Encore' - genau so wie das Album einer gewissen Berliner Band. Auch wenn 'Filter-Kaffee' den Stil der 70er-Jahre pflegen, sie legen Wert darauf, dass sie keine Copycats sind. Die Parallelen zu TDs 1977er-Album sind zwar erkennbar, aber der Weg ist schon ein eigener, und so haben sich Mario und Frank noch einmal einen dicken Applaus verdient, mit dem das dritte Konzert des Tages endet.
Ein kurzer Blick von Frank auf die Uhr: wir sind den Zeitplan eigentlich ein wenig voraus, wollen wir mit dem letzten Konzert früher anfangen? Versuchen wir es einfach mal. Im Zweifelsfall haben Hajo, Roksana und Wolfram dann ein wenig mehr Zeit.
Im Endeffekt fängt das letzte Konzert des Tages dann doch genau zur geplanten Zeit an. Der Abbau von Filter-Kaffees Setup hat doch ein wenig Zeit gebraucht, zusammen mit ein paar letzten Abstimmungen. Wolfram Spyra und Roksana Vikaluk sind ja schon seit einigen Jahren ein Paar, sowohl privat als auch auch auf der Bühne. Zu Dritt mit Hajo Liese sehe und höre ich sie heute aber zum ersten Mal. Dabei liegt der Ursprung dieser Zusammenarbeit schon weit zurück, nämlich beim letzten Ricochet Gathering, anno 2010 in Berlin. Dort hatte man sich eher zufällig beim Sound-Check zusammen gefunden. Danach vergingen immerhin neun Jahre, in denen sich nichts weiter ergeben hat, aber aus den Augen hat man sich nie verloren. 2019 auf der Superbooth in Berlin war dann die erste offizielle und 'geplante' Zusammenarbeit. Und jetzt sind wir in Borgholzhausen, und warten gespannt auf das, was passieren wird...
Das Konzert zu eröffnen, gebührt natürlich der Dame: Roksana schlägt einmal die Triangel, und Titel Nummer eins startet ohne besondere weitere Ankündigung. Warme und volle Sounds füllen den Raum, kombiniert mit Roksanas machtvoller Stimme, die in diesem Moment mehr Instrument als Gesang ist. Der Unterschied zu den eher minimalistischen Klang-Gemälden von Filter-Kaffee könnte kaum größer sein. Auch diese Sounds führen uns in andere Sphären, aber die Stimmung ist eine gänzlich andere. Dafür zeichnen alleine schon die Sequenzen verantwortlich, wie man sie nur beim Spyra hört: treibend, perlend, und wie glitzerndes Wasser, das vorbei strömt.
Nach einer Weile kommen wir aber in ruhigeres Fahrwasser: Piano-Sounds und eine minimalistischere Basis lassen uns einen Moment verschnaufen, bis der erste Titel in einem Crescendo mündet. Ich fühle mich wie in einem musikalischen Zauberwald versetzt, und mitten in diesem Wald sitzt eine Zauberin, die uns alle in ihren Bann zieht.
Der erste Titel war schon deutlich im zweistelligen Minuten-Bereich, und auch Titel Nummer zwei wird nicht wesentlich kürzer. Er basiert auf einer Idee von Hajo, und wird genauso druckvoll wie der erste. Wolfram spielt jetzt frei, mit Unterstützung durch seinen Breath-Controller, der wieder zu funktionieren scheint - 2022 in Eindhoven hatte der ja irgendwann den Geist aufgegeben. Ich wünsche mir im Stillen, dass dieser Titel - wie überhaupt der ganze Auftritt - für die Nachwelt konserviert wird. So könnte ich ihn noch einmal nach empfinden.
Nach zwei Titeln, die die Stimmung im Raum zum äußersten getrieben haben, ist es an der Zeit für einen echten Kontrapunkt: Roksana wird ihre Stimme solo präsentieren. Über die Ukraine und die dort lebenden Menschen haben wir in den Medien in der letzten Zeit ja viel gehört und gelesen. Dazu gehört auch, dass in diesem Land viel und gern gesungen wird, und das es einen reichen Schatz an Volksliedern hat. Eben aus diesem Fundus bekommen wir jetzt eines präsentiert, und - damit die Elektronik nicht völlig außen vor gelassen wird - wird sie sich per Live-Looping dabei selber begleiten.
Was soll ich dazu sagen: Wer nicht dabei gewesen ist, und nicht zu 150% auf 'reine Elektronik' fixiert ist, für den sind die folgenden Minuten ein magischer Moment, der sich mit der Bilderreihe nur unvollkommen wiedergeben lässt. Roksanas Stimme, ihr Mienenspiel und ihre Bewegungen gehen eine Symbiose ein, der man sich nicht entziehen kann, und der Saal bleibt die ganze auch mucksmäuschenstill, bis der Titel zu Ende ist und Applaus aufbrandet.
Wie sollen wir nach diesem magischen Moment fortfahren? Am besten mit einen 'Spyra-Klassiker', nämlich 'Future of the Past'. Der gerät live und mit Hajo natürlich anders als auf CD. Aber die Basis erkennen wir natürlich wieder, und er beschließt das letzte Konzert des Tages, das nicht nur musikalisch, sondern auch emotional ein Höhepunkt war. Wolfram will jedenfalls kein so rechtes Schlusswort einfallen, und er bittet Frank Gerber um ein 'Machtwort'. Und von Frank kommt das Wort, das uns allen auf der Zunge liegt: 'Zugabe!'
Wolfram ist natürlich genauso Musik-Profi wie die drei anderen Acts des Tages, dass er für diese Aufforderung die passende Antwort parat hat. 'The Frozen Fountain' ist im Original ein eher ruhiger Titel, aber heute wollen wir ihn zum Ausklang des Abends noch einmal richtig 'knallen' lassen, mit Beats. Alle drei geben noch einmal vollen Einsatz, und bekommen dafür den verdienten Extra-Applaus.
Danach ist die Party aber wirklich vorbei - selbstverständlich nur für dieses Jahr. Und was soll ich sagen: es ist ziemlich genau Punkt 22 Uhr, so wie der Zeitplan es vorgegeben hat. Bar und Grill verteilen natürlich noch gerne den letzten Schluck oder Happen, so dass niemand mit leerem Magen gehen muss. Viele von uns, mich eingeschlossen, haben ja noch einen weiten Weg vor sich. So hat Wolfram zum Beispiel gleich morgen um 10 Uhr einen Termin in einer Kirche in Kassel - das wird wohl eine Nachtfahrt, genauso wie gleich bei mir. Hoffentlich klappt es im nächsten Jahr wieder mit einer Übernachtung. Dann dürfen Frank, Hans-Hermann, das restliche Team des Electronic Circus und die Musiker wieder nach Herzenslust überziehen - wenn in Borgholzhausen wieder die Sommerparty des Jahres steigt.
Alfred Arnold