Eine Sache steht ohne Frage fest: E-Day und E-Live gehören seit Jahren zu den absoluten Highlights des EM-Jahres. Ron Boots gelingt es zweimal im Jahr, mit einem gut zusammengestellten Programm Fans aus den Niederlanden, Belgien, Deutschland, England und wahrscheinlich noch ein paar Ländern mehr anzulocken. Seit Jahren ist ein nahezu ausverkaufter Saal eher die Regel als die Ausnahme.
Nachdem mit dem CKE in Eindhoven eine neue Location gefunden wurde, die dauerhaft Heimstatt für beide Events sein kann, konnte Ron sich dieses Mal wieder ganz auf das Lineup konzentrieren. Was er in seinen ersten Facebook-Postings nur andeutete, entpuppte sich als ein kleine Sensation: Zum wiederholten Male konnte Ron Boots Johannes Schmoelling als Haupt-Act verpflichten. Johannes ist nicht unbedingt bekannt dafür, gerne und häufig live zu spielen, aber mit Ron als Gastgeber und Organisator scheint er sich wohl und sicher zu fühlen. Schon in 'De Enck' hatte Johannes mit 'Loom' zweimal für ein ausverkauftes Haus gesorgt. Der für E-Live 2023 angekündigte Solo-Auftritt sollte dies aber noch einmal toppen: Bereits einen Monat vorher ging das letzte Ticket über den virtuellen Ladentisch. Das dürfte ein neuer Rekord sein!
Natürlich dürfte einige Karten davon an Fans gegangen sein, die eben nur an Johannes Schmoelling interessiert waren, mit dem Ergebnis, dass der eine oder andere 'Stammkunde', der nicht schnell genug bestellt hatte, leer ausging. Daher gab es den expliziten Hinweis von Ron, dass das 'Programm' im Foyer auch Besuchern ohne Ticket offen steht: Die CD-Stände, Austausch und Gespräche mit so vielen Gleichgesinnten, wie man sie sonst kaum zusammen an einem Ort findet, und mit John Christian (bekannt von AirSculpture) ein 'Pausen-Act', der auch ohne weiteres im 'Hauptprogramm' bestehen könnte.
Als Teil von letzterem sollte Stefan Erbe heute seine Solo-Premiere bei Ron feiern dürfen, nach - man mag es nicht glauben - 25 Jahren! Mit Koen Buytaerd (die eine Hälfte von 'The Roswell Incident') und Kontroll-Raum komplettierten zwei Acts das Programm, die die Fahne der klassischen Berliner Schule hochhalten. Die Erwartungen an 'E-Live 2023' waren also hoch, und - um es vorwegzunehmen - sie wurden nicht enttäuscht.
Wenn eines bei so einem Festival nicht passieren sollte, dann dass man wegen eines Staus auf dem Weg zu spät kommt. John Christian gehört zu den Musikern, die in Schulze-scher Tradition nie zweimal das gleiche spielen, also empfiehlt es sich, rechtzeitig genug da sein, um auch dessen erste Set vor den Konzerten im großen Saal zu genießen. Also plante ich dieses Mal extra eine halbe Stunde mehr für die Anfahrt aus Aachen ein...
...und musste dann erleben, wie diese Reserve in Nullkomanichts von einer Autobahnsperrung und einer Umleitung über Venlo aufgefressen wird. Nein, es war natürlich nicht so schlimm, dass wir zum ersten Konzert zu spät kommen, das ist mir in all den Jahren E-Day und E-Live nur ein einziges Mal passiert. Aber als wir das Foyer des CKE betreten, ist John Christian bereits in Aktion und der Betrieb gibt eine Vorahnung davon, wie dieses E-Live das CKE an seine Kapazitätsgrenzen bringen wird.
Der erste Weg führt natürlich zur Anmeldung. Seit Ron seine Groove-Webseiten und deren Shop-System von Grund auf renoviert hat, reicht es im Prinzip, den Namen zu nennen, um auf der 'Bestellliste' gefunden zu werden - einen Ausdruck der Bestellung bringe ich eigentlich nur noch aus alter Gewohnheit mit. Die erste Überraschung: Ron beweist Sparsamkeit und braucht übrig gebliebene Einlass-Bändchen aus früheren Jahren auf. Meines ist rot und wurde mal für den E-Day 2022 gedruckt, damals noch im Natlab in Eindhoven. Es sind an diesem Tag aber auch Bändchen in anderen Farben gesichtet worden...
...eine einheitliche Farbe haben dagegen die Wertmarken, gegen die Speis und Trank abgegeben werden. Auch dieses Mal organisiert Ron mit seinem Team das Catering selber. Die gereichten Speise sind schlicht, aber solide: Suppe, Wurst im Brötchen und Kuchen, bei denen Wert auf die Feststellung gelegt wird, dass sie vom Bäcker und nicht aus der Tiefkühltheke eines Supermarkts stammen. Wem das nicht reicht: Zwischen zweitem und drittem Konzert wird es wieder eine große Pause geben, mit zwei Stunden lang genug für ein Abendessen in einem der umliegenden Restaurants. Mir reichen die Snacks: Die Nahrungsaufnahme wird heute in erster Linie in musikalischer Form sein - Sehr bekömmlich und dennoch kalorienarm.
Wo von musikalische Nahrungsaufnahme die Rede ist: Die findet natürlich nicht nur in der Live-Form statt, auch CD-Stände sind in großer Menge im Foyer aufgebaut. Hier scheint die Aussicht auf besonders viel Kundschaft auch die Nachfrage nach Stellplätzen befeuert zu haben. Das einzige Problem: Man kommt vor dem ersten Konzert überhaupt nicht dazu, sich das Angebot ein wenig genauer anzusehen. Es ist fast unmöglich, ein paar Schritte zu gehen, ohne auf ein Bekannte zu stoßen und sich für ein paar Minuten auszutauschen. So vergeht die Dreiviertel Stunde bis zum ersten Konzert wie im Flug, und die vor der Tür sich aufbauende Schlage mahnt, sich für einen guten Platz rechtzeitig anzustellen.
Pünktlich öffnen sich die Tore zum großen Saal und geben mit den Instrumenten auf der Bühne schon einmal einen Vorgeschmack auf das, was uns heute Nachmittag und Abend erwarten wird. Das Setup von Stefan Erbe erkenne ich natürlich auf den ersten Blick, und der große Konzertflügel wird von Johannes zum Klingen gebracht werden. Dann steht vorne links noch ein einzelner Ständer mit Bildschirm und Keyboard - das muss 'Ghosts im Mirrors' sein. Von 'Kontroll-Raum' ist noch nichts zu sehen. Der beschränkte Platz auf der Bühne hat das Team um Ron Boots wohl dazu veranlasst, den eigenen Prinzipien ausnahmsweise untreu zu werden: In einer der Pausen wird nicht nur ab-, sondern aufgebaut. In Gedanken drücke ich die Daumen, dass dabei nichts schief geht.
Bevor Ron den ersten Act des Tages ansagt, wäre eigentlich noch eine andere Sache noch zu erledigen: Aus mehreren Ecken des Saals wird 'Happy Birthday' angestimmt. Zumindest wenn man einem bekannten sozialen Netz glauben will, war der gestrige Freitag Rons Geburtstag. Ron winkt aber ab: Nicht ich bin hier wichtig, sondern die Musik, und deshalb folgt nach einer kurzen Begrüßung auch schon die Einleitung für das erste Konzert des Tages. 'Ghosts in Mirrors' ist ein Projekt von Koen Buytaert, den wir ansonsten von 'The Roswell Incident' kennen. Im Duo Koen mit seinem Bruder Jan pflegt er seit vielen Jahren eine ganz eigene Variante der Berliner Schule: immer noch von Sequenzen getragen, aber deutlich dunkler und ruhiger, so dass sie zum Beispiel sehr gut in Planetarien funktioniert. Die Sequenzen sollen heute noch weiter in den Hintergrund treten. Ron stellt dafür den Begriff 'Strange Ambient' in den Raum.
Nun ist Ambient ein sehr weites Feld, und gerade erst vor einer Woche habe ich auf dem Phobos-Festival festgestellt, dass man Dingen, die einem 'merkwürdig' vorkommen, besser mit einem offenen Ohr begegnen solle, als sich vor ihnen zu verschließen. Ganz so dunkel wie in Wuppertal wird es bei 'Ghosts in Mirrors' nicht, aber auf jeden Fall sphärisch mit weiten Flächen. Sequenzen und Rhythmen fehlen im ersten (langen) Track nahezu vollständig. Wir sehen dazu Bilder aus dem Weltall mit Koordinaten von Sternen, aber auch die Visualisierung eines Computer-Netzwerks, in dem Nachrichten von Rechner zu Rechner wandern. Beides sind Dinge, von denen wir ständig umgeben sind, aber derer wir uns nur selten bewusst werden - fast wie ein Geist, der nur gelegentlich ins Bewusstsein rückt.
Im zweiten Teil wird die Musik deutlich rhythmischer. Passend dazu sehen wir das Innenleben von Uhren und Maschinen. Auch über deren Funktion machen wir uns die üblicherweise keine Gedanken, meistens erst wenn sie nicht mehr so funktionieren wie sie sollten - und dann mag man manchmal vermuten, dass irgendein böser Geist in die Maschine gefahren ist. Derlei Gedanken können wir ungestört nachgehen, denn Koen verzichtet auf jegliche Bühnenshow, sondern versteckt sich schon fast ein wenig hinter einem Bildschirm. Auch er ist der Meinung, dass die Musik das wichtigste ist.
Zum Ende seines Auftritts wird es wieder ruhiger, wir wechseln atmosphärisch in die Stille und Dunkelheit der Nacht. Einen Geist habe ich auch hier nicht gesehen, aber man kann spüren, dass auch in einem Wald bei Nacht noch Leben ist - man sieht es nur meistens nicht. So still und zurückhaltend der Schluss-Track war, so bescheiden stellt sich Koen danach neben sein Setup und nimmt den wohlverdienten Applaus entgegen. Sein Konzert war ein schöner Einstieg in den Tag, man könnte sagen, die 'Ruhe vor dem Sturm', die eine Vorahnung auf das gibt, was noch an diesem Tag folgen wird. Nicht nur was die Auswahl der einzelnen Konzerte angeht, auch bei deren Reihenfolge hat Ron ein gutes Händchen für einen Spannungsbogen.
Aus dem Saal heraus, ist es an der Zeit, den Rundgang an den CD-Ständen nachzuholen. Der erwartete Besucher-Andrang hat auch zu einer großen Nachfrage nach Stellplätzen für CD-Stände geführt - Aufgrund des begrenzten Platzes konnte hier nicht alle Wünsche erfüllt werden. Der Stand von Groove ist natürlich der größte von allen, und seit Ron Boots sich komplett auf sein Groove-Label konzentrieren kann, hat sich auch die Zahl der Releases pro Jahr merklich gesteigert. Drei der Neuerscheinungen der letzten Wochen werden als Paket zu einem Sonderpreis angeboten, dazu aber gleich mehr. Auch Mario Schönwälder mit seinem Manikin-Label war fleißig: Dort wird nicht so viel und häufig veröffentlicht wie bei Ron. Umso bemerkenswerter ist, dass heute gleich zwei Neuerscheinungen ausliegen: Das neue Album
von Kontroll-Raum hört auf den Namen 'Gate 23', davon werden wir heute Abend wohl noch den einen oder andren Titel live hören. Zum anderen hat Detlef Keller seine von Youtube bekannten 'Spaintronics' gleich als Doppel-Album heraus gebracht.
Direkt gegenüber - ein wenig eingequetscht unter der Treppe - betreuen Remy und Peter Dekker den Stand von Deserted Island Music. Beide können mit einer Neu-Veröffentlichung aufwarten: Peters neues Studio-Album 'Anthropromorphic Personification', und Remy hat die Live-Mitschnitte vom 2022er-Konzert in Haarlem aufbereitet und ins CD-Format gebracht. Dies dürfte für viele eine schöne Erinnerung an ein Konzert an einem beeindruckenden Ort sein.
David Wright hat es ebenfalls zu E-Live mit einem Stand geschafft. Die Enttäuschung über das ausgefallene E-Scape scheint er mittlerweile überwunden zu haben, wenn man seinen Gesichtsausdruck so betrachtet. Seine Streaming-Konzerte sind dafür mittlerweile eine regelmäßige Einrichtung geworden und auch an seinem Stand werden eine Reihe von Neuerscheinungen präsentiert.
Passend zu Koen Buytaerts Konzert haben auch die EM-Labels aus Belgien einen Stand mit einer großen Auswahl aufgebaut. Und last, but not least: einige Musiker präsentieren sich auch mit eigenen Ständen. Zu denen gehört auch Stefan Erbe, der das folgende Konzert bestreiten wird. Und die sich vor der Tür zum Saal aufbauende Schlange erinnert daran, dass man sich besser gleich als später für den Einlass bereit machen sollte.
Bevor Stefan uns auf eine Reise in sein Klang-Universum mitnimmt, nutzt Ron die Bühne für einen kleinen Werbeblock. Wie bereits erwähnt, kann man am Groove-Stand drei Neuerscheinungen günstig im Paket kaufen. Zum einen ist das Rons eigenes neues Album 'Alone on Stage', ein Mitschnitt seines (denkwürdigen) Solo-Auftritts auf dem Dutch Masters in Best vor ein paar Wochen. Natürlich ist die Aufnahme noch ein wenig 'tangentized' worden, d.h. im Studio nachbearbeitet und ergänzt, damit sie Rons eigenen hohen Standards genügt. Das zweite Album stammt von Gert Emmens, der nach Jahren der Abstinenz auch einmal wieder persönlich anwesend ist. Auf 'city never sleeps' ist er mit seiner Musik neue Wege gegangen und hat mit einer Reihe kürzerer Tracks das Score zu einem Film kreiert, der noch gedreht werden Muss. Ob das je passiert, steht wohl eher in den Sternen, aber die Musik ist ausdrucksstark genug, das jede(r) sich im Kopf eigene Bilder dazu machen kann.
Schlussendlich ist das (lang erwartete) neue Soloalbum von Rob Papen da, und nicht ganz ohne Augenzwinkern hat Rob ihm den Namen 'Waiting' gegeben. Es ist sicher mit der Verdienst von Ron Boots, dass Rob in den letzten Jahren das eine oder andere Mal sein Studio verlassen und sich auf die Bühne getraut hat. Der nächste Live-Termin von Ron und Rob wird 'Hello 2024' im Planetarium Bochum sein. Noch sind Karten dafür zu haben, aber die Erfahrung aus früheren Jahren lehrt, dass man mit der Bestellung nicht zu lange warten sollte.
Nach dieser kleinen 'Werbeeinlage' ist es aber an der Zeit, Stefan Erbes Konzert mit den passenden Worten einzuleiten. In sozialen Netzen kursieren bisweilen Postings mit einer Liste von Fragen, die man beantworten soll, und Stefan hat auf die Frage, was er noch einmal in seinem Leben machen möchte, geantwortet: "Einmal live und solo beim Ron auftreten". Ron wollte das zuerst nicht glauben, aber nachdem er ein Vierteljahrhundert E-Day, -Live und deren Vorgänger gedanklich Revue passieren ließ, musste er Stefan Recht geben: Alleine hat er in der Tat noch nie bei Ron gespielt. Und der Zeitpunkt ist gut gewählt, das nachzuholen: mit 'Genesys 23' hat Stefan nicht nur ein neues Album geschaffen, er hat zu der Geschichte um die künstliche Intelligenz 'Gene' auch gleich noch die passenden (bewegten) Bilder produziert. Diese audio-visuelle Gesamtwerk habe ich schon zweimal erleben dürfen, einmal in Bochum und einmal in der Hagener Sternwarte. Wie sagte aber einer meiner Professoren im Studium? Man muss alles mindestens dreimal gesehen haben: Einmal zum Staunen, einmal zum Verstehen und einmal zum Genießen. Dann wäre ich also heute in der Genussphase angelangt, und kann mich, wo ich die Botschaft hinter der Geschichte erfasst habe, ganz auf die Details konzentrieren. Stefan hat Musik und Visuals über die letzten Monate kontinuierlich verfeinert und verbessert. Und man merkt ihm selber auch an, wie wohl und sicher er sich auf der Bühne des CKE fühlt, wenn er zu der Musik viele Melodie-Linien live spielt. 'Genesys 23' wirkt hier in Eindhoven noch einmal wuchtiger und druckvoller, und man entdeckt hier und da noch eine Anspielung in den Visuals, die man bei den ersten beiden Malen übersehen hat.
Aber auch wer sich für Geschichte und Botschaft nicht so sehr interessiert, kommt voll auf seine Kosten, denn auch auf seinem neuesten Werk demonstriert Stefan seine Fähigkeit, mit einem Wechselbad der Stimmungen und Tempi einen Spannungsbogen aufzubauen, der bis zu den letzten Takten von 'Sense of Life' anhält. Eine Zugabe würde nach so einem in sich geschlossenen Werk doch eher als unpassendes Anhängsel wirken, und so nutzt Stefan die verbleibende Zeit, um ein paar Worte ans Publikum zu richten. Er erzählt, wie es zu 'Genesys 23' kam, die Vorgeschichte dieses Konzerts, und richtet großer Dank an Ron Boots, der ihm die Bühne heute zur Verfügung gestellt hat. Ron Boots verfolgt das alles mit einem fast meterbreiten Grinsen und greift auch noch einmal zum Mikrofon, bevor er uns alle in die große Pause verabschiedet.
Wobei der Begriff 'Pause' für die folgenden zwei Stunden natürlich nicht für Alle gilt. Stefan Erbe zum Beispiel muss jetzt ganz geschwind seine Geräte abbauen und Platz für das Setup des ersten Konzerts nach der Pause machen. Direkt nach einem Konzert ist die Nachfrage nach dem gerade gespielten an den CD-Ständen natürlich am höchsten, und so übernehme ich für den Moment die Aufgabe, Exemplare der 'Genesys 23' gegen einen von der Europäischen Zentralbank herausgegebenen 10-Euro-Gutschein einzutauschen. Es lohnt sich: eine zweistellige Zahl an CDs wechselt den Besitzer, verbunden mit dem Hinweis auf den kleinen Zettel mit dem Download-Code. Den sollte man beim Öffnen der Folie nicht verlieren, denn mit diesem Code gibt es bei Bandcamp einen kostenlosen Download aller drei Varianten: mit englischen oder deutschen Dialogen, oder ganz 'instrumental'. Und die meisten Exemplare werden auch gleich vor Ort ausgepackt, man will sie ja bei der Gelegenheit auch gleich signiert haben.
Noch ein kleiner Imbiss, dann geht es weiter mit der 'musikalischen Nahrungsaufnahme': John Christian beginnt sein zweites Konzert auf der kleinen Bühne im Foyer. Was er jetzt spielt, klingt völlig anders als das, was wir heute Mittag gehört haben: Sanfte Flächen, zarte Sounds, über denen ein paar virtuelle Möwen kreisen: So 'ambient' erlebt man John nicht oft. Aber offensichtlich versteht er sich auch darauf, denn es gelingt ihm auch damit, die Anwesenden in seinen Bann zu ziehen: Entferne Stimmen verkünden Botschaften und verschwinden auch wieder im Dunkel, nach gut 20 Minuten verklingt der letzte Ton. Wird es davon einen Mitschnitt geben? Wir werden sehen. John bittet um ein wenig Geduld, das nächste Stück erfordert ein paar Vorbereitungen.
Das ist kein Wunder, jetzt wird es deutlich flotter, passend zum Kaffee, der beim Überwinden der 'Nachmittags-Trägheit' geholfen hat. Alles wirkt so einfach und selbstverständlich, was John auf der Bühne macht. Weiterhin positiv anzumerken: Auch diese 'Nebenbühne' ist im CKE mit vernünftiger PA ausgestattet, so dass auch der 'Wumms' bei den tiefen Tönen nicht fehlt.
In der Zwischenzeit sind viele Besucher vom Abendessen zurück ins CKE gekehrt, dessen Foyer sich sicht- und hörbar wieder belebt. Ein wenig Zeit bleibt noch, bis wir uns wieder an der Tür für den Einlass und einen guten Platz anstellen. Denn der dritte Act verspricht, den ersten beiden qualitativ in nichts nachzustehen: 'Kontroll-Raum' hatten bereits einmal im Foyer des NatLab gespielt, nun ist alles für den ersten Auftritt auf der 'großen Bühne' bereit. Dafür muss Bas Broekhuis, der sich bisher im Hintergrund um die Technik gekümmert hat, nach vorne kommen - noch ein paar Scherze mir Ron und eine kurze Ansage, dann gehört die Bühne dem niederländisch-berlinerischen Trio alleine.
Wie 'Kontroll-Raum' klingt? Man könnte sich die Sache einfach machen und sagen, das ist 'Filter-Kaffee' plus Bas Broekhuis. Aber bei der Musik gilt wie auch in anderen Bereichen, dass eine Zusammenarbeit meist mehr ist als nur die Summe der Einzelteile. Während Mario Schönwälder und Frank Rothe bei 'Filter-Kaffee' gerne in Flächen und 70er-Jahre-Sounds schwelgen, bringt Bas mit seinen Drums und Rhythmen Struktur und Takt in die Musik. Das merkt man gleich beim Einsteiger, der vom heute neu vorgestellen Album 'Gate 23' stammt und das Tempo für den Rest des Konzerts vorgibt. Woher dieser Name stammt? Das möchte Mario gerne schon einmal kurz erläutern. Indes: irgendwie will das Mikrofon nicht mitspielen. Kurzer Zuruf von Ron: Du musst den Knopf am Mikrofon etwas länger drücken! Und siehe da, kaum macht man es richtig, funktioniert es auch schon. Mario wäre nicht Mario, wenn er um eine Ausrede verlegen wäre: Geräte mit nur einem Knopf sind ihm nicht so vertraut, seine Instrumente haben ganz viele davon. Aber was es mit dem Titel auf sich hat: 'Gate' schlägt wie 'Check In' die Brücke zu Flugreisen, und '23' - das ist einfach das Jahr. Also steigen wir ein und machen einen kleinen Rundflug durch Kontroll-Raums Klangräume. Da hören wir als nächstes einen 'Impossible Groove', ebenfalls von dem neuen Album. Heute ist aber alles möglich, insbesondere wenn drei Könner des Fachs sich gefunden haben. Da darf 'It all starts with the Second Step' auch schon mal an dritter Stelle stehen. Im virtuellen Luftraum ist alles möglich, die Grenze ist die eigene Vorstellungskraft. Hier darf Bas sich auch mal richtig an seinen Drums austoben, die Beats werden fetter. Dabei bleibt das Trio trittsicher genug, die Pfade der Berliner Schule nicht zu verlassen. Dabei wollen die eigenen Füße gerne mal mit dem Rhythmus mitgehen, sowohl auf der Bühne als auch im Saal - Berliner Schule mit Drive!
Wegen des folgenden Konzerts ist der Auftritt von 'Kontroll-Raum' auf 50 Minuten limitiert, und die gehen bei einer derart flotten und mitreißenden Gangart schneller herum, als man glaubt. Mario meint, man hätte noch fünf Minuten: Ob er die mit Reden verbringen sollte, oder lieber mit Musik füllen: Was für eine Frage! Zum Schluss wird es noch einmal richtig flott, und die Zugabe - die spielt gleich der Johannes für Euch!
Wer mehr von Kontroll-Raum hören will, sollte noch einmal am Manikin-Stand vorbei schauen, für die folgende Pause müssen wir ohnehin den Saal verlassen. Abbau und letzte Proben klappen meist besser, wenn man dabei ungestört arbeiten kann, und es wäre natürlich schade, wenn einer der seltenen Auftritte von Johannes Schmoelling durch eine vermeidbare Panne gestört werden würde. So hat auch niemand ein Problem damit, dass der Einlass ein paar Minuten später als geplant erfolgt.
Denn schon das Bild, das uns von der Leinwand entgegen leuchtet, verspricht Großes: Auch wenn Johannes Schmoelling immer noch Neues kreiert, so darf man nach über vier Jahrzehnten auch einmal zurück blicken. Das hat er auf seinem 2022er-Album 'Iter Meum' getan, und Johannes' Weg durch diese Jahre steht auch als Motto über dem letzten Konzert des Tages. Wie meistens im Leben, verläuft ein Weg nicht schnurstracks und als logische Abfolge von Ereignissen, die einander bedingen. Und so stammt der Einsteiger eben nicht aus den frühen 80er-Jahren, als Johannes Mitglied bei Tangerine Dream war. Stattdessen wählt er 'A Great Continent' als Einstieg, und zwar in einer Version, die das Original von 1990 mit Teilen von 2011 verbindet. Mit dem großen Kontinent ist die Antarktis gemeint, das machen die zu diesen Titel laufenden Visuals unmissverständlich klar. Was dieses Konzert auch besonders macht: Die Visuals kommen nicht als vorproduziertes Video 'aus der Konserve', sie werden live von Andreas Merz produziert, der links an einem kleinen Tisch ebenfalls auf der Bühne sitzt.
Natürlich sind die Jahre mit Tangerine Dream eine für Johannes prägende Zeit gewesen. Gleich zu Anfang ging es mit Edgar und Christopher nach Ost-Berlin: Tangerine Dream waren die erste westdeutsche Band, die im Palast der Republik spielen durften, lange bevor andere nach einem 'Sonderzug nach Pankow' fragten. Wir sehen Bilder des Palastes, in verschiedenen Bauphasen und mit den drei Musikern davor. Ein besonderer Effekt: In einer Sequenz lässt Andreas den Bau des Palastes rückwärts laufen - ein Hinweis darauf, dass der Palast nach dem Ende der DDR einer Replik des Berliner Stadtschlosses Platz machen musste. Eindrücke von dem bereits halb entkernten Gebäude fehlen in der Bilderschau nicht.
Aber auch wenn der Palast nicht mehr existiert, in den Köpfen Vieler besteht er weiter, und für Johannes spielte beim damaligen Konzert das das legendäre Piano-Solo: vom 'Palast der Republik' zum 'Palace of Dreams'. Auf diese Ereignisse geht er auch ein, als er nach der ersten halben Stunde aus seiner Keyboard-Burg mit dem Mikrofon nach vorne tritt. Eben 'Palace of Dreams' soll der nächste Titel sein, und wie seinerzeit beim Opener des ersten Loom-Konzerts in Oirschot wird es eine rein akustische Version sein. Ich bin sicher, viele der im Saal Anwesenden waren auch seinerzeit dabei. 'Palace of Dreams' auf dem großen Konzertflügel war ein magischer Moment, auch weil es damals so unerwartet war. Der Vergleich von 2011 und 2023 liegt natürlich nahe. Johannes hat in der Zeit dazwischen nichts von seiner Virtuosität an diesem Instrument eingebüßt. Natürlich klingt die heutige Version anders: etwas weniger energisch, dafür feiner gezeichnet und mit neuen Variationen - nicht besser oder schlechter, einfach anders und genauso des Anlasses würdig.
Als wollte Johannes klarstellen, dass die Zeit bei Tangerine Dream eine wichtige für ihn war, aber eben auch nicht die einzige, folgt als nächster Titel 'Matjora is still Alive' von seinem ersten Solo-Album 'Wuivend Riet'. Musik und Bilder gehen eine nicht weniger starke Verbindung ein: Ein Ort, der im Wasser versinken wird, und Menschen, die ihre Heimat verlieren werden, die sie aber immer im Gedächtnis bewahren werden. Wem das etwas zu melancholisch ist: Wir springen mit 'The Onion Way' ins Jahr 2016, und mit den Bildern gleich wieder zurück zu der Zeit mit Tangerine Dream, genauer zu der Japan-Tournee. Der Kontakt mit einer anderen Kultur und deren Musik war auch Edgar Froese in seinen Memoiren ein eigenes Kapitel wert.
Auf gleiche, abwechslungsreiche Weise gestalten Johannes und Andreas den Rest des Konzerts. Titel vom aktuellen Album wechseln einander ab mit solchen aus früheren Jahrzehnten, und ebenso springen die Bilder durch die Zeiten. Und immer ist da ein Johannes Schmoelling, der virtuos zwischen seinen Instrumenten wechselt. Manchmal hat man aus der Entfernung den Eindruck eines Dirigenten, der sein elektronisches Orchester immer fest im Griff hat. Der Lohn für diese Leistung nach einer Stunde magischer Momente: Stehende Ovationen, und selbstverständlich der Wunsch nach mehr!
Was die Zugabe uns bringt: Die Erkenntnis, dass man einen Weg selten alleine geht, sondern dass es Begleiter und Freunde gibt, ohne die man nicht wäre, wo man heute steht. Edgar und Christoph gehören natürlich dazu, denn ohne sie wäre Johannes Anfang der 80er vielleicht in eine ganz andere Richtung gegangen. Aber da sind auch Jerome Froese und Robert Waters: Ohne deren Beharrlichkeit hätte er wohl nie den Schritt auf die Bühne gewagt. Und - last but not least - das aktuelle Projekt 'S.A.W.' mit Robert und Kurt Ader. Sie alle haben auf ihre Weise dazu beigetragen, dass Johannes diesen Weg gehen konnte, und ihn noch weiter geht. 'Friends' ist ihnen gewidmet. Beschlossen wird die Zugabe von 'White Eagle' Tangerine Dreams bekanntestem Titel, zu dessen Erfolg Johannes mit seinen kompositorischen Fähigkeiten einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet hat.
Und nun noch einmal: Andreas und Johannes vorne auf der Bühne, unter stehenden Ovationen eines bis auf den allerletzten Platz gefüllten Saals. Es mussten sogar noch einige Stühle extra aufgestellt werden, wie man beim Herausgehen wird sehen können. Dafür ist es aber noch zu früh: Denn hartnäckige Forderungen nach einer zweiten Zugabe zwingen Johannes doch noch einmal auf die Bühne. Ich würde behaupten, die stand eigentlich nicht auf dem Plan, aber Johannes' Qualitäten zeigen sich eben auch daran, dass er auch jetzt noch etwas aus dem Hut zaubern kann: 'Circles', wie seinerzeit in Oirschot rein akustisch auf dem Flügel. Soll man diesen Titel wörtlich nehmen? Hat sich damit ein Kreis geschlossen und der Weg ist vollendet? Nein, vollendet ist der Weg nicht, Johannes Schmoelling wird uns hoffentlich noch viele Jahre mit Alben und solchen Konzerten beglücken. Aber zu einem Weg gehört auch, dass man bisweilen im Kreis läuft und wieder an Orte zurück kehrt - nicht mehr ganz als die selbe Person, als die man losgegangen ist.
So hoffen auch wir, dass dies nicht das letzte Mal gewesen sein wird, dass sich Johannes und Ron zum Abschluss in die Arme fallen. Natürlich hat Ron noch ein paar abschließende Worte, und Johannes wird draußen im Foyer noch eine Weile für Autogramme und zum Signieren zur Verfügung stehen. Aber so wie Johannes auf den Bildern von 'Iter Meum' uns den Rücken zudreht und weiter seinen Weg geht, so richtet Ron seine Blicke auf das, was kommen wird: Nach 'Hello 2024' wirft der nächste E-Day bereits seine Schatten voraus. Der Ort dürfte fest stehen, wenn nichts unvorhergesehenes dazwischen kommt. Die Acts stehen noch nicht fest, und Ron ist auch für Vorschläge offen. Aber vielleicht möchte Ron ja auch auf seine Weise einen Kreis schließen? In den vergangenen Tagen konnte man auf Facebook einen Austausch von Ron und einer Musikerin lesen, deren Auftritt in 'De Enck' auch schon über ein Jahrzehnt zurück liegt. Ob etwas daraus wird? So oder so, ich werde auch im Frühjahr 2024 wieder nach Eindhoven fahren. Einfach weil Ron es schafft, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich alle gut und wohl fühlen: Die Besucher, das Tem und die Künstler. Man sieht sich im April 2024 in Eindhoven!
Alfred Arnold