Martin Stürtzer, frisch gebackener Schallwelle-Preisträger, erzählt in Interviews gerne, dass die Corona-Krise und seine Home-Konzerte seiner Karriere einen besonderen Impuls gegeben haben. Erfreulich ist, das er für die Fans, die ihn gerne auch einmal auf einer realen Bühne sehen wollen, fast genauso aktiv ist. Gerade letzte Woche hat er in Berlin gespielt, und heute veranstaltet er in seiner Heimatstadt Wuppertal ein weiteres Konzert. Der Ort ist ein besonderer, nämlich das Zentrum Emmaus im Stadtteil Cronenberg. Dort ist Martin als Chorleiter und Kantor tätig. Nur zur Erinnerung: Martin macht nicht nur elektronische Musik, sondern ist auf einer Kirchenorgel genauso virtuos.
Es ist ein Freitag, und Freitagskonzerte sind immer etwas besonderes: Am Freitag-Abend hat man das ganze Wochenende vor sich, man fährt mit doppelter Vorfreude zum Event. Daran ändert auch das Wetter nichts: War es über die Woche frühlingshaft schön, hat der Wettergott sich heute entschieden, das in denn letzten Jahren aufgelaufene Minus an Niederschlägen ein wenig aufzuarbeiten. So bleibt es bei ein paar schnellen Totalen des Emmaus-Zentrums, bevor ich mir einen trockenen Unterstand suche. Der Einlass ist erst für 18 Uhr angekündigt.
Während ich also zusammen mit ein paar frühen Gäste darauf warte, dass die Tür sich öffnet, fällt der Blick auf die Fahrradständer und ein blaues Schild mit weißem 'P': 'Reserviert für Musicus Martinus'. Hat es der Martin hier schon zu solcher Berühmtheit gebracht, dass für seinen Drahtesel ein Stellplatz reserviert ist? Um der Sache vorzugreifen: Nein, das Schild wurde für seinen Vorgänger im Amt aufgestellt, der zufällig auf den gleichen Vornamen hörte. Ihm selber wäre es eher peinlich, wenn man seinetwegen so ein Schild aufstellen würde, und das passt auch zu dem Martin Stürtzer, den ich in den vergangenen Jahren kennen und schätzen gelernt habe: Wenn auffallen, dann durch das, was man leistet. Aber nun steht das Schild schon einmal, und ein reservierter Parkplatz ist ja auch nicht zu verachten...
Erfreulicherweise öffnet sich die Tür schon eine Viertelstunde früher. Ich habe - wie die meisten - mein Ticket übers Internet im voraus gekauft. Gegen Abgabe des ausgedruckten E-Tickets gibt es einen Stempel auf den Handrücken, und die nächste Station führt an die Bewirtungsstelle: Autofahrer bevorzugen alkoholfreies, und eine süße Kleinigkeit darf es auch gerne noch sein - bis zum Konzertbeginn um 20 Uhr ist ja jetzt noch eine ganze Weile.
Besucht man zum ersten Mal eine Location, schaut man sich den Saal natürlich ein wenig genauer an. Es sind Stühle für zirka 150 Gäste aufgestellt, und die sind im Vorverkauf auch fast komplett gebucht worden. Martin Stürtzer wird also vor vollem Haus spielen. Einstweilen läuft hier noch Musik aus der Konserve, auch die ist - selbstverständlich - von Martin und füllt den noch fast leeren Saal auf angenehmste Weise. Sein Aufbau, bestehend aus den zwei Racks, die man auch in den Home-Konzerten immer sieht, nutzt die als Bühne umfunktionierte Apsis und ist in sanftes Rosa getaucht.
Als der kleine Zeiger der Uhr sich der Acht nähert, ist der Saal wie erwartet beinahe bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Besucher sind überwiegend nicht aus "unserer" EM-Szene, und es sind sicher viele Mitglieder der Kirchengemeinde darunter, die einfach mal neugierig sind, was ihr Kantor ansonsten noch so an Musik macht. Das ist das richtige Rezept, denke ich so bei mir, man muss aus den gewohnten Kreisen ausbrechen und Brücken schlagen.
Martin trifft gerade die letzten Vorbereitungen: Mehrere Kameras, die seinen Auftritt komplett aufzeichnen werden, werden aktiviert, und auch eine Tasse Tee muss noch her. Nach einer kurzen Begrüßung wird das Licht gedimmt. Ein dunkles Blau dominiert und lässt Martin fast silhouettenhaft erscheinen. Die Musik soll wirken und nichts davon ablenken. Wie wichtig Martin das ist, mag man daran ermessen, dass er das Konzert unterbricht und neu ansetzt, als nach ein paar Minuten versehentlich noch einmal das große Saallicht eingeschaltet wird.
Sozusagen im zweiten Anlauf können wir dann ganz in Martin Stürtzers musikalische Welten abtauchen. Die sind zwar durchgängig elektronisch, aber darin breit aufgestellt. Man hat von ihm schon Dub und Techno gehört, aber heute bleibt Martin bei der Mischung aus Ambient und Berliner Schule, die er in den letzten Jahren immer weiter entwickelt hat. Der Schwerpunkt liegt je nach Titel natürlich etwas anders. Die Gemeinsamkeit: Alle sind von Martins aktuellen Alben. Die ersten beiden Stücke gehen in die atmosphärische Richtung und spannen die Weiten auf, die das Plakat zu diesem Konzert bereits verspricht. Erst im dritten Titel 'wagt' Martin etwas mehr und schiebt die Sequenzen und Rhythmen in den Vordergrund - es soll ja auch niemand ganz wegschlummern.
Wieder etwas wach geworden? Dann gibt es im nächsten Track einige schöne melodische Passagen zum Genießen. Martin spielt jetzt parallel auf zwei Keyboards und es wird klar, warum er seine beiden Racks immer so 'über Eck' aufbaut. Zum Abschluss des ersten Teils holt er aus ihnen noch ein paar mächtige Bass-Flächen heraus, die uns aufs Angenehmste einhüllen, die einem sanften, melodischen Finale den Weg bereiten.
Martins überraschender Kommentar zu dieser ersten Hälfte: "Das war ja jetzt sehr schnell..." - der zweite Teil soll anders werden. So unterschiedlich können Sichtweisen sein, aber auf einen Punkt kann man sich einigen: Die erste Hälfte ist sehr gut angekommen - so gut, dass am CD-Stand die häufigste Frage ist, auf welchem Album man denn das eben gespielte noch einmal hören kann. Die ist gar nicht so einfach zu beantworten, denn das Set wurde aus Material von verschiedenen Alben zusammen gestellt. Die beiden neuesten Veröffentlichungen sind auf jeden Fall darunter. Von denen ist aber nur eine hier physisch als CD zu haben, die anderen kann man nur digital als Download erwerben. In Zeiten immer weiter sinkender CD-Verkäufe muss man sich als Künstler genau überlegen, was man noch auf CD pressen lässt. Immerhin: Das aktuelle Album 'Spaceport' hat sich so gut verkauft, das nur noch ein oder zwei Kartons übrig sind.
Auch wenn man - wie ich - bereits Martins komplette Diskographie im Regal oder auf Festplatte hat, gibt es hier am CD-Stand etwas abzustauben: Von den Plakaten sind noch einige über und werden kostenlos abgegeben, auf Wunsch selbstverständlich vom Künstler signiert.
Auf diese Weise geht die Pause wie im Flug vorbei, auch wenn die angekündigten 20 Minuten großzügig aufgerundet wurden. Das Licht wechselt wider in tiefes Blau, und wir erleben, wie Martin uns noch ein gutes Stück weiter in die Tiefen des Kosmos mitnimmt. Kürzere, abgegrenzte Titel gibt es nicht mehr, alles ist ein durchgehender Flow aus Flächen und Sequenzen, die kontinuierlich ineinander übergehen. So reisen wir in diesem Klangraum auch einmal an einem hellen Stern vorbei und lassen ihn auch wieder hinter uns.
Die allermeisten Besucher sind auch für den zweiten Teil geblieben, und würden das auch für eine Zugabe noch tun. Aber für den heutigen Abend hat Martin alles gespielt, was er spielen wollte. Insbesondere der zweite Teil war durchgängig improvisiert. Martin hatte in einer kleinen Fragestunde in der Pause verraten, dass sich diese Musik nicht mit klassischen Noten aufschreiben lässt. Sie entsteht während der Komposition am Rechner, und die genaue Reproduktion eines Titels gestaltet sich schwierig. Deshalb würde er auch lieber neue Titel kreieren und spielen...
Es sind gerade die Osterfeiertage, als ich diese Erinnerungen aufschreibe, und Martin Stürtzer hat die ersten Hälfte dieses Konzerts als 'Not at Home Concert 61' veröffentlicht. Das hat jetzt ausnahmsweise nicht in seinen heimischen vier Wänden stattgefunden, aber andererseits: Zu Hause ist doch auch da, wo man Freunde hat und sich wohlfühlt. Das war an diesem Abend im Emmaus-Zentrum sicher der Fall. Und damit schließt sich auch der Kreis zu der Überschrift, die der Autor für diesen Bericht gewählt hat...
Alfred Arnold