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Mehr als nur Kunst am Wegesrand - die Atelierroute Sellingen

Es ist Anfang August, (Hoch-)Sommer und Urlaubszeit. Die Ruhe wird nur gelegentlich durch ein Grillfest mit Live-Musik aufgelockert. Gäbe es nicht noch andere Wege, elektronische Musik und Sommerwetter zu einem Ereignis abseits des 'normalen' OpenAir-Konzerts zu  verbinden?

Atelierroute Sellingen 2024

Bas Broekhuis hat einen solchen gefunden, und 'Weg' darf man in diesem Fall wörtlich nehmen. In Sellingen, sowohl unweit der Grenze zu Deutschland als auch Bas' Wohnort gelegen, lockt immer Anfang August die 'Atelierroute' Besucher.  Künstler und Kunsthandwerker stellen ihre Werke an einem Rundweg aus.  Alle paar hundert Meter findet sich an einem Haus oder Hof eine neue Station, und wer die komplette Route einmal abgegangen ist, hat nicht nur viele schöne Dinge gesehen, sondern auch für die eigene Gesundheit etwas getan.

Wenn Auge und Kunstsinn angesprochen werden, dann verlangen die Ohren doch auch nach etwas 'Input'. So werden die Ausstellungen an einigen der Stationen von kleinen Live-Auftritten begleitet. Da Bas seit langer Zeit im Sellinger Freilufttheater aktiv ist, war es natürlich Ehrensache, dass auch er sich an der Atelierroute musikalisch beteiligt. Indes: Die Route besteht aus einem guten Dutzend Stationen, und er kann nur an einer davon sein. Ob er nicht noch ein paar Musiker kennt, die auch Lust hätten...?

Aber ja, da gibt es doch vier andere, uns wohl bekannte Herren, mit denen Bas zusammen in der einen oder anderen Formation zusammen elektronische Klänge erschafft. Und natürlich ließen die sich nicht zweimal bitten, hier in einer für die 'fünf Manikins' gänzlich ungewohnten Konstellation aufzutreten: nämlich jeder solo und für sich. Die gemeinsame klangliche DNA hält sie aber auch auf Abstand zusammen.

Im letzten Jahr sind Bas, Mario, Michael, Detlef und Frank zum ersten Mal an der Atelierroute aufgetreten. In diesem Jahr hat es dann auch bei uns mit einem Trip nach  Sellingen gepasst. Die erste Frage bei der Planung: Nur ein Tagesausflug oder sowohl den Samstag als auch den Sonntag mitnehmen? Die Atelierroute geht nämlich über zwei Tage, und an beiden spielen die Musiker an unterschiedlichen Stationen. Die Entscheidung fiel zu Gunsten des ganzen Wochenendes, und dass dies die richtige war, sollte sich noch zeigen. Sellingen liegt außerdem etwa auf der Höhe von Papenburg, für einen Tagesausflug aus NRW ist es also schon recht weit. So oder so musste eine Übernachtungsmöglichkeit her.

Bei so kurzfristiger Buchung kann man nicht wählerisch sein, aber der erste Vorschlag des Buchungsportals passte denn doch nicht so ganz: Schlappe 4000 Euronen für zwei Nächte in einer Villa mit Pool in Sellingen sprengen das Reise-Budget dann doch deutlich. Schlussendlich wurde es ein Appartement in Werlte, auf der deutschen Seite im Emsland und ungefähr eine Dreiviertel Stunde von Sellingen entfernt. Auf dem Weg von Werlte nach Sellingen weisen Schilder auf Grosssteingräber hin, die eigentlich auch mal einen Besuch wert wären. Dann geht es unter der ehemaligen Transrapid-Versuchsstrecke hindurch, und kurz vor der Grenze wechseln wir auf ein Nebensträsschen. Das entwickelt sich im Verlauf immer mehr zu einer von Asphaltflicken zusammen gehaltenen Buckelpiste. Aber auf einmal rollen wir wieder auf einem einwandfreien Asphaltband daher? Ach ja, stimmt, da war eben ein Schild, wir sind jetzt in den Niederlanden, genauer gesagt in der Provinz Groningen, zu der die Gemeinde Westerwolde gehört. Der Beetserweg beginnt am anderen Ende des Städtchens, den Wagen stellt man zum Beispiel dort am Freibad ab.

Der erste Blick geht auf den vorab bereit gestellten Plan. Der kennzeichnet nicht nur die Stationen an den Wegen, sondern vermerkt auch, wie die Wege passierbar sind. Dass einige davon für Autos verboten sind, verwundert im Fahrrad-Paradies Niederlande nicht weiter. Fürs erste bleiben wir aber auf dem Beetserweg, an dem die meisten der Stationen liegen. An fünfen davon wird ein 'Manikin' spielen.

Wie sehr man sich mit Entfernungen verschätzen kann, merken wir direkt zu Beginn: Bis zur ersten Station mit Musik sind wir gute 20 Minuten zu Fuß unterwegs. Gelegentlich vorbeifahrende Radfahrer grüßen mit einem 'Hoi', und die wenigen Autos halten sich an das Tempolimit von 30 Kilometern. Ein wenig aufpassen muss man nur bei Traktoren, deren Fahrer nutzen die Höchstgeschwindigkeit ihres Fahrzeuges auch gerne mal voll aus...

An der ersten Station treffen wir auf Frank Rothe. Wettergeschützt unter einem kleinen Zelt stehend, hat er ein sparsames Set aufgebaut. Materialschlachten sind bei so einer Gelegenheit nicht angesagt, wo jeder Musiker sein Equipment alleine auf- und wieder abbauen muss. Bei Filter-Kaffee und Kontrollraum kennt man ihn für Klänge, die tief in die 70er eintauchen.  Was hier gerade läuft, klingt aber deutlich nach BK&S, und Frank improvisiert dazu.  Am Ende des Tracks verrät er uns den Grund: Jeder Musiker hat Material aller Manikin-Projekte als Basis dabei, und kann es dann nach seinem Gusto variieren.  Nach einem kleinen Plausch schauen wir uns erst mal an, was an diesem Stand an Kunst angeboten wird: Nicht nur Gemälde, auch Schmuck und aus abgelegter Bekleidung genähte Taschen im Patchwork-Stil. Ein paar Dinge davon werden auf den Wunschzettel gesetzt, dann hören wir uns noch einen weiteren Track an. Der ist deutlich dunkler und flächiger, passt aber genauso gut in die Atmosphäre der lockeren Begegnung, wo Zuhörer regelmäßig kommen und gehen. Wir ziehen nach diesem Titel weiter, der Tag ist noch jung und wir haben noch einige Stationen vor uns. Sechs Stunden erscheinen auf einmal gar nicht mehr so lang!

Eine Station und ein paar hundert Meter weiter erwartet uns ein Haus mit großem Garten und viel Platz für Zelte. Unter einem davon sitzt Bas und hat sein Hang aufgebaut: ein Perkussions-Instrument, auf dem sich ähnlich wie bei einer Steeldrum aber auch Melodien spielen lassen. Bas benutzt ebenfalls die untereinander ausgetauschten Backings als Basis, um sie auf dem Hang zu begleiten. Etwas mediterranes Feeling, aber im Norden der Niederlande? Gerne, hier dazu einen Kaffee, während man es sich auf dem aus Heuballen gebauten Sofa bequem gemacht hat. Auch hier gilt wieder: Nur für zwei oder drei Tracks, dann macht man sich wieder auf den Weg.

Auf dem bleiben wir übrigens von Regengüssen verschont: Das Wetter spielt an diesem Tag mit. Die Wolken entlassen nur gelegentlich einige wenige Tropfen, andererseits brennt die Sonne auch nicht zu heftig auf die Wanderer herunter. So erreichen wir weder nass noch verschwitzt die dritte Station, die von Mario 'bespielt' wird. Indes, der macht gerade Mittagspause. Die Musiker werden von den jeweiligen Gastgebern auch aufs beste verköstigt, und ehrlich gesagt: Auch Künstler leben nicht alleine vom Applaus. Also schauen wir uns erst einmal die hier ausgestellten Objekte an, von denen eines sogar zum Mitmachen einlädt: Aus Fäden soll eine Art Netz entstehen, das und - bildlich gesehen - alle verbindet.

Was uns in der Szene verbindet, ist die Liebe zur Musik, und mit der geht es nach dem Mittags-Snack weiter. Wie auch auf der Bühne, lässt Mario es sich nicht nehmen, vor jedem Titel ein paar Worte zu erzählen. 'From Red to Green' kommt heute in einer Variante zu Gehör, wie es BK&S es auf ihrer USA-Tour in der St. Mary's Church gespielt haben. Auf der CD füllte diese Version eine ganze CD aus, die Kurzform fügt sich aber genauso gut in die entspannte Stimmung aus Sommer, Kunst und Begegnung ein. Gelegentlich muss Mario gegen ungebetene, geflügelte Besucher auf dem Keyboard ankämpfen. Bei Insekten besteht aber keine Gefahr, dass die ungewollte Töne auslösen, ganz anders als wenn Neptun bei einem Home-Concert doch einmal auf eine Taste tritt...

Auch wenn das jetzt nur eine Kurz-Version war, sie war doch lang genug, dass wir uns jetzt dringend auf den Weg zur nächsten Station machen müssen, wollen wir heute noch alle fünf Manikins sehen und hören. Wie schon geschrieben, sechs Stunden erscheinen auf einmal gar nicht mehr so lang. Michael heutige Station liegt fast ganz am Ende des Beetserwegs, und eigentlich wollte er für diesen Tag schon Schluss machen. Eine klare Ansage von meiner Begleitung bewirkt aber die erwünschte Meinungsänderung. Stolz zeigt Michael die Liste der 41 Tracks, die er sich in den letzten Tagen 'drauf-geschafft' hat. Darunter ist die ganze Spannweite des Manikin-Portfolios, das gerade durch ihm noch einmal deutlich erweitert wurde: Melodisch-rhythmisch, und beinahe schon poppig kommt der Einsteiger daher. Danach können wir wieder ein wenig plauschen, und Michael verrät dabei, dass die Musik gar nicht der Hauptgrund für die fünf ist, sich zusammenzusetzen.  In erster Linie kommt es darauf an, Spaß zu haben - gute Musik entsteht dabei fast als Nebenprodukt. Spaß hat Michael jetzt auch noch, also zur Abwechslung mal in Moll: wuchtig und weniger poppig, aber trotzdem zum 'Abheben'. Auch der BK&S-Track, den er darauf folgen lässt, klingt in seiner Version deutlich voller und wärmer. Da könnte man nach dem Abheben glatt drin versinken...

...wenn da nicht die Uhr wäre, an der irgend jemand gedreht haben muss. Detlef hat seine Station heute ganz am Anfang des Beetserwegs, und wenn wir wenigstens noch ein paar Minuten von ihm hören wollen, müssen wir uns beeilen. So geht es im schnellen Schritt den ganzen Weg wieder zurück, und siehe da: Detlef hat noch nicht abgebaut.  Im Gegenteil, er beweist seine Multitasking-Fähigkeiten, während er spielt. Für ein Viertelstündchen zwischen Spaintronic und BK&S reicht es noch so, bis Detlef Feierabend macht und die Abbau-Helfer gerade recht gekommen sind. Versprochen: morgen am Sonntag wird Detlef das erste Ziel sein.

An dieses Versprechen halten wir uns auch, wenn man es auf die Stationen einengt, die 'bespielt' werden. Abseits des Beesterweges gibt es aber noch einige Orte, die wir gestern ausgelassen hatten, und die wir jetzt nachholen. Bei der Gelegenheit testen wir gleich einen Weg aus, der im Plan als 'nur für Fußgänger' markiert ist. In der Tat: Viel mehr als ein Trampelpfad durch die Landschaft ist das nicht, und mit einem dafür passenden Fahrrad würde man nur als Umwelt-Rowdy auffallen. Dafür bekommt man als Wanderer ganz viel Natur in der Sommerfrische geboten, während man am Flüsschen entlang wandert: Auf den Grashalmen liegt noch reichlich morgendlicher Tau. Zurück zum Beetserweg geht es dann an einem kleinen See vorbei. Das Panorama weckt Erinnerungen an eine Heidelandschaft.

Wie es der Plan so will, spielt Detlef heute an der Station, an der wir gestern Frank getroffen haben. Er geht gerade zum Auto, er will doch nicht schon einpacken?  Nein, keine Sorge, er holt nur die Jacke, denn heute ist es ein wenig frischer als am Samstag, aber immer noch angenehmes 'Wanderwetter'. Auf der Playlist macht Detlef weiter, wo er gestern aufgehört hat: 'Spaintronic', und die Impros dazu werden nach und nach mutiger, bis...ihm sein Mittagessen gereicht wird. Auch heute muss keiner der Musiker alleine vom Applaus leben! Danach darf es gerne ein etwas ruhigerer Track sein, und die Frage, worum es sich bei dessen Nachfolger handelt, ist eine rein rhetorische: 'Source of Life' war so viele Male Schluss- und Höhepunkt in Repelen.

Aufhören, wenn es am schönsten ist: Detlef wir natürlich noch den Rest des Tages weiter spielen, aber wir haben noch vier weitere Stationen zu besuchen. So verabschieden wir uns zu den Klängen von 'KelMen' und machen uns auf den Weg zu dem Landhaus, wo gestern Bas sein Hang gestreichelt hat. Heute finden wir dort Frank, und er ist auf ein wenig 'Geartalk' aufgelegt. Wie gestern schon erwähnt, der Gerätepark sollte für diesen Anlass eher klein sein, und wenn man aus dem kompletten Manikin-Repertoire schöpfen kann, dann sind Instrumente gefragt, die viele Sounds in wenig Volumen unterbringen. Ein neuerdings recht beliebter Klang-Erzeuger ist der Korg Wavestate, über den Frank ganz locker doziert, man hätte hier eigentlich (mindestens) vier vollwertige Synthesizer auf Knopfdruck zur Verfügung. Und das ganze in einem sehr kompakten Gehäuse, und zu einem sehr attraktiven Preis. Einzig die Einarbeitung ist nicht 'ohne', auch er kratzt bisher eher an der Oberfläche. Aber auch das kann schon überzeugen: Wir hören BK&S einmal ganz anders, zuerst mit flächigen Impros, dann mit Piano-Klängen. Gern hätten wir noch mehr gehört, doch wie schon an der letzten Station die Erkenntnis: Wir müssen weiter, wollen wir denn wieder bei allen fünf Stationen vorbei schauen.

Bäumchen wechsle Dich: Wo gestern Mario war, spielt heute Michael. Genauer gesagt, er spielt im Moment gerade nicht. Wenn der Gastgeber ein kühles Bier anbietet, dann kann, darf und soll man nicht nein sagen. Spielen geht 'einhändig' eher nicht so gut, Reden dafür schon. Michael ist hauptberuflich im Vertrieb von Keyboards unterwegs (Schwerpunkt: Arturia), und kann da so die eine oder andere Geschichte erzählen, sei es der Besuch in 'Thomann-City' Burgebrach, oder in welch beklagenswertem (zugequarztem) Zustand bisweilen Geräte zur Reparatur eingeschickt werden.

Nach dem Plausch geht es natürlich mit Musik weiter, und Michael spielt in seinem ganz eigenen Stil: fröhlich, motivierend, melodisch, weniger Berliner Schule. Schön, dass auch das bei Manikin seinen Platz hat. Michael als 'jüngstes Manikin' ist auf jeden Fall ein echter Gewinn.

Was soll ich sagen - auch am Sonntag muss wieder irgendein böser Bube an den Zeigern der Uhr gedreht haben. Kam gestern Detlef zu kurz, so ist der Abstecher zu Bas heute von kurzer Natur. Auch heute nutzt Bas durchgehend sein Hang, um die vorhandenen Backings auf seine Weise zu ergänzen. Wir freuen uns darauf, dass er dieses außergewöhnliche Instrument auch einmal wieder in einem 'echten' Konzert dabei haben wird. Wann das sein wird? Schauen wir einmal. Für dieses Jahr steht ja nur noch ein 'Liquid Sounds' in Bad Schandau auf dem Kalender. Ideen und Planungen gibt es natürlich schon, aber nichts davon ist so konkret, dass man es offiziell verkünden könnte.

Planungen fürs kommende Jahr und die Absagen der Kirchenkonzerte in Duisburg und Berlin sind auch ein Thema an der letzten Station, bei Mario: Auch wenn man eigentlich mit der Musik gar kein großes Geld verdienen will, es werden einem heutzutage organisatorische Hürden in den Weg gelegt, die ein Projekt verunmöglichen können. Zum Beispiel ergeben sich aus der vermeintlich simplen Forderung, man solle selber Veranstalter sein, Aufwände, die man als einfacher Besucher erst einmal gar nicht auf dem Schirm hat. Als Veranstalter zahlt man zum Beispiel die GEMA-Gebühren, und die sind für einen Kirchensaal mit einer dreistelligen Zahl an Sitzplätzen erklecklich.  In Repelen war all die Jahre die Kirche selber der Veranstalter, aber dieses Modell ist dort leider nicht mehr gangbar. Man sondiert neue Locations und ist im Gespräch, aber - wie gesagt - nichts ist bisher 'spruchreif'.

Aber hören wir hier an der letzten Station lieber noch ein wenig Musik, auch wenn Mario dafür den Rechner noch einmal durchstarten muss: Das haben wir doch eben noch bei Michael gehört, nur anders. Und etwas 'vom Deti' - wo ist es denn? Genau, da!

Mit den Gedanken über das, was geplant ist, was dieses Jahr noch kommt und im nächsten vielleicht kommen wird, machen wir uns auf den Rückweg. Dass wir wieder diesseits der Grenze sind, merkt man - wie eingangs erwähnt - am Straßenzustand. Nur eines ist sicher: Auch 2025 werden wir uns das erste August-Wochenende für ein Wochenende in Sellingen freihalten. So ausgeruht, entspannt und voll positiver Energie bin ich selten von einem 'Event' zurück gekehrt. Es muss an der richtigen Mischung aus Musik, Bewegung und Begegnung liegen. Und die wird man aller Voraussicht nach auch wieder im kommenden Jahr in Sellingen finden - auf der Atelierroute.

Alfred Arnold

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.