Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich in einem meiner früheren Berichte über den Electronic Circus festgestellt, das ein Zirkus nie lange an einem Ort bleibt. Und so ist es hier auch: Das Team um den Electronic Circus hat sich einen neuen Spielort gesucht, von Hamm führte der Weg nach Lemgo. Dort hat man nicht irgendeinen gewöhnlichen Konzertsaal gefunden: Die 2024er-Ausgabe des EC ist die erste, die in einer Kirche stattfindet. Um genau zu sein, ist es die evangelische Kirche St. Johann, mitten in der Innenstadt vom Lemgo gelegen. Das für diesen Tag eingeladene Line-Up ist vielversprechend: Sowohl Alerick Project als auch Thorsten Quaeschning sind keine Unbekannten im Circus-Umfeld. Erik Seifert und Joseph Steinbüchel bürgen ebenfalls immer für Qualität, und mit Xabec wagt sich das EC-Team auf Neuland: Zum ersten Mal wird ein reinrassiger Ambient-Act in der Manege auftreten.
Haben wir mitgezählt? Ja, richtig, das sind gerade einmal vier Acts für einen Tag, der kurz nach Mittag beginnt und eine Stunde vor Mitternacht enden soll. Zu Gartenparties hat man schon mal fast die doppelte Menge eingeladen. Klasse statt Masse ist das Motto, das diesem besonderen Ort gerecht werden soll, und großzügig geplante Pausen zwischen den Konzerten bieten Raum für Gespräche und die eine oder andere Überraschung im Rahmenprogramm.
Für uns Besucher steht natürlich die Anreise an so einem Tag zu aller erst auf dem Programm, und an einem neuen Ort gilt es immer erst einmal, sich zu orientieren. Lemgo liegt ein gutes Stück weiter im Osten als Hamm, und so entschieden wir uns nach etwas Hin und Her doch für eine Übernachtung. Hotelzimmer ließen sich erfreulicherweise auch noch kurzfristig zu akzeptablen Preisen buchen. Vom Hotel am Stadtrand bis zur Kirche sind es zirka zweieinhalb Kilometer. Das vierrädrige Gefährt stellt man am besten im Parkhaus 'Wüste' gleich nebenan ab. Keine Angst vor dem Bezahlautomaten: Weniger als Euro pro Stunde und ab 19 Uhr gar keine Gebühren. Für die vier Euro, die uns das Parkhaus insgesamt gekostet hat, hätte man sein Gefährt am 'Westzipfel' vermutlich keine zwei Stunden unterstellen können.
Über einen kleinen Weg gelangt man auf den Hof von St. Johann. Bereits von hier kann man den Soundcheck im Saal zu erahnen. Der Weg dorthin führt durch ein gläsernes Atrium, das zwischen die alten Mauern eingepasst wurde. Auch wenn der 'offizielle' Einlass erst um 13 Uhr ist, bereits jetzt ist dort reger Betrieb und es sind Einlassbändchen an Besucher ausgegeben worden. Woran man direkt merkt, dass man zu Freunden kommt? Ich brauche gar nicht meine Reservierungsnummer samt Namen zu nennen, mir strecken sich direkt zwei Hände entgegen, die das Bändchen ums Handgelenk wickeln, und mein Name auf der Liste ist bereits abgehakt. Der Blick schweift durch den Raum...
...und über die Tische, auf denen ein CD-Stand nach dem anderen aufgebaut wird. Physische Tonträger sind Vielen in 'unserer Szene' immer noch wichtig. Die heute auftretenden Musiker haben jeweils ihre eigenen Stände, wobei an Thorstens Stand natürlich auch viel TD-Merchandise zu haben ist. Daneben hat Lambert mit seinem Spheric-Label sein Angebot ausgebreitet. Eines seiner 'Zugpferde' ist natürlich Robert Schröder, und der hat gerade mit 'Observer' ein neues Album heraus gebracht. Ein Exemplar davon wandert bei mir in die Tasche mit den Erwerbungen, dann geht es herüber zum traditionellen Doppel-Stand von Syngate und Manikin. Kilian veröffentlicht über das Jahr regelmäßig Alben verschiedenster Künstler, dem entsprechend breit ist das Angebot. Als 'Extra' kann man heute eine Art Sessel mit eingebauten Schallwandlern ausprobieren. Lässt man sich darauf nieder, hört man die Musik nicht nur, man fühlt sie auch.
Die Frequenz der Releases ist bei Manikin etwas niedriger, durch den umfangreichen Back-Catalog ist die Auslage aber nicht minder beeindruckend. Es zahlt sich aus, wenn man vorab eine kleine Liste mit den Lücken in der Sammlung angelegt hat. Am anderen Ende der Tischreihe hat ein kleines musikalisches Familienunternehmen Platz gefunden: Ansgar Stock tritt zwar nicht exakt in die Fußstapfen seines Vaters Matthias, aber teilt doch Vorliebe und Talent. Sie haben nicht nur Tonträger dabei, sondern auch zwei Live-Termine in diesem Herbst: Einmal Vater und Sohn, und einmal zusammen mit Volker Rapp.
Noch einen Tisch weiter, findet sich eine ganz wichtige Einrichtung, nämlich das Catering. Das hat das EC-Team in der Kirche auch in die eigenen Hände genommen. Die Theke aus Borgholzhausen konnte leider nicht hierher geschafft werden, und das Aufstellen eines Grills war wohl leider auch nicht möglich, obwohl die Temperaturen Anfang September das problemlos hergeben würden. Selbst gebackener Kuchen, belegte Brötchen, Brezeln, Kaffee und - ganz wichtig bei diesem Wetter - Erfrischungsgetränke sind aber auch nicht zu verachten. Schon Wertmünzen gekauft? Wenn noch nicht, bitte gleich neben der Anmeldung nachholen.
Es sind auch genug Tische und Stühle vorhanden, um bei einem vorgezogenen Nachmittags-Kaffee den einen oder anderen Plausch zu führen. Gesprächspartner sind dafür reichlich vorhanden, denn diese Ausgabe des Circus ist gut besucht. Unter den Besuchern sind auch einige illustre Namen, zum Beispiel Ecki Stieg und Winfrid Trenkler. Beide werden im Verlaufe des Tages auch noch in eine aktive Rolle wechseln. Aber auch Steffen Thieme und Michael Völkel, die Macher der Sendung 'Sounds of Syn', haben sich von Hamburg auf den Weg nach Lemgo gemacht - einen Nachbericht vom heutigen Tag wird man auch in der nächsten Sendung hören können.
Die Tür zum (Kirchen-)Saal steht auch bereits für Besucher offen, so dass man einen Blick auf die letzten Vorbereitungen riskieren kann. Die Aufbauten von drei der vier Acts stehen bereits und nutzen den knapp bemessenen Platz bestmöglich aus. Der Reihenfolge der Konzerte entsprechend, steht Thorstens Setup ganz hinten. Auch wenn er noch teilweise verdeckt ist, wirkt er jetzt schon beeindruckend.
Woran man merkt, dass es langsam ernst wird? Frank schwingt sich in seine 'Dienstkleidung', das Kostüm des Zirkusdirektors, und bereitet die Begrüßung vor. Mit den ersten Sätzen bittet er aber noch um etwas Geduld - wir warten noch, bis alle 'VIPs' drin sind. Einige davon konnten sich draußen noch nicht von ihren Gesprächen los reißen. Als aber auch die ihren Platz gefunden haben, kann es endlich los gehen:
Erst einmal: Ein herzliches Willkommen zum mittlerweile vierzehnten Electronic Circus, der ersten Ausgabe in einer Kirche! Passend zu diesem Anlass hat man sich das eine oder andere 'Extra' einfallen lassen, das über die Konzerte hinaus geht. Die VIPs spielen dabei eine wichtige Rolle. Gerne hätte man auch noch ein paar bekannte Namen mehr präsentiert, aber wenn die 'Heroen unserer Jugend' auch nicht mehr die Jüngsten sind, dann kann auch einmal eine kurzfristige Absage aus gesundheitlichen Gründen kommen. Die war bei 'Propaganda' leider der Fall, und Frank verspricht uns, dass dies bei nächster Gelegenheit nachgeholt wird.
Jetzt aber zum ersten Act des Tages, und 'Alerick Project' sind für regelmäßige Circus-Besucher keine Unbekannten: Alessandro Ghera und Riccardo Fortuna waren einige Jahre getrennte Wege mit eigenen Projekten gegangen, sind inzwischen aber wieder zusammen aktiv. Von ihren damaligen Auftritten hatte ich eingängige, moderne und flotte EM in Erinnerung, und genau dort knüpft das Duo aus dem sonnigen Süden wieder an: Nach einem spacigen Intro mit Orgel-Sounds geht die Post ab, Sequenzen mischen sich mit einem guten Schuss Italo-Pop. Das Tempo zieht im Verlauf des Tracks noch ein gutes Stück an, und es ist schade, dass es hier vor der Bühne so eng zugeht - so muss der Fuß sich darauf beschränken, mit dem Rhythmus mitzuwippen.
Weder Musiker noch Publikum können immer mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs sein. Nach knapp zehn Minuten wird das Tempo gemächlicher und lässt auch mal wieder etwas Raum zum Wegträumen. Indes: Als Alessandro und Riccardo wieder Gas geben wollen, fängt die Maschine an zu stottern und setzt dann ganz aus. Vor solchen Pannen ist man bei der komplexen Technik nie ganz sicher, das wissen alle hier im Saal. Und so reicht ein schlichtes 'Sorry' mit kurzem Neustart aus, dass die Reise durch Alerick Project's Klänge fortgesetzt werden kann. Das Tempo steigert sich zu einem ersten 'Finale Furioso', nur gleich darauf Raum wieder abzukühlen und Platz für ein Piano-Solo zu machen - das Wechselbad der Stimmungen bleibt bestehen. Gelegentlich müssen für den nächsten Track ein paar Dinge vorbereitet werden, was uns die Gelegenheit für einen Zwischenapplaus bietet. Leicht schräge und an eine Sirene erinnernde Töne gehen eine Melange mit komplexeren Sequenzen ein, bis beides wieder dem bestimmenden Rhythmus Platz machen muss, und wir ein zweites Finale erleben, das keines ist...
...denn das erste Konzert des Tages ist noch lange nicht zu Ende. Alessandro und Riccardo finden ein ums andere Mal noch eine schöne Melodie, bis sie bei den zwei letzten Titeln des Auftritts angelangt sind. Die verdienen eine gesonderte Ankündigung: Nach ihrer eigenen Version von 'Killing Fields' beschließt 'Meridiani Paralleli' das erste Konzert des Tages. Dafür wechseln sie die Plätze und geben noch einmal alles. Was man nach so einem Einstieg in den Tag sagt? 'Mille Grazie!' zu den Musikern, und gute Entspannung und Erfrischung in der ersten Pause!
Eine Spezialität des Electronic Circus war immer schon, dass in den Pausen Gespräche nicht nur vor der Bühne geführt werden, sondern auch darauf. Ecki Stieg wird auch in diesem Jahr derjenige sein, der die Interviews führt. Den Anfang macht einer der heute auftretenden Musiker. Manuel Richter ist als 'Xabec' seit vielen Jahren unterwegs, und sein Auftritt ist eine echte Novität auf dem Circus; mit ihm wagt man sich in die Ambient-Szene vor. Da deren Vertreter hier 'bei uns' noch nicht so bekannt sein dürften, darf Manuel bei seiner musikalischen Karriere ganz vom Anfang an erzählen. Die beginnt in den 80er-Jahren, mit der damaligen Technik. Mitte der 90er-Jahre kam er unter anderem mit Asmus Tietjens in Kontakt, was eine für ihn wichtige Erkenntnis brachte: Man braucht keine klassischen Song-Strukturen, es gibt noch andere Wege. Das bestimmt seitdem seine Arbeit, selbst wenn er über die Jahren auch gelegentlich wieder an Songs gearbeitet hat. Der rote Faden ist seitdem die Arbeit mit dem Klang. Ein Ergebnis davon ist auch die Entwicklung eines eigenen Instruments, der 'Soundbox': Ein auf den ersten Blick unscheinbares Holzkästchen, das man vom Äußeren her mit einem Theremin verwechseln könnte. Aber es hat es in sich: zwei hochempfindliche und extrem rauscharme Verstärker fangen die Töne ein, die mit den Stäben, Federn und auf der Reibfläche erzeugt werden. Das ist dann der 'Input' für diverse Effektgeräte und Looper.
Nach einer mehrjährigen Pause ist Manuel seit 2018 wieder live aktiv und hat seinen Weg zum Ambient gefunden. Für ihn ist diese Musik ein Weg, ich selber zu entstressen, und das wichtige ist, was man selber dabei empfindet. Was wir dabei empfinden? Das werden wir im übernächsten Konzert erfahren. Für den Moment machen Ecki und Manuel Platz für ein anderes musikalisches Duo:
Seit vielen Jahren steht Joseph Steinbüchel als gleichberechtigter Partner auf den Alben von Erik Seifert. Die Beiden kennen einander jedoch schon viel länger. Wenn sie sich heute in Lemgo gegenseitig die Ehre geben, dann ist das auch aus Anlass ihrer 50-jährigen Freundschaft. Live-Auftritte von Seifert und Steinbüchel sind selten, nicht zuletzt weil Erik ein bei Film und Fernsehen viel gefragter Tontechniker ist - in das enge Raster dieser Termine muss ein Live-Konzert irgendwie noch hinein passen. Insofern darf sich das EC-Team glücklich schätzen, Seifert und Steinbüchel als zweites Konzert des Tages präsentieren zu können. Wir werden heute Songs aus den vielen Jahren der Zusammenarbeit hören, für diesen Anlass in ein neues Gewand gekleidet. Und so das bis dahin Gespielte gefallen hat, wird auch noch ein bisher unveröffentlichter als Zugabe zu Gehör kommen.
Nun, dass das, was jetzt kommen wird, gefallen wird, das können wir getrost als gegeben annehmen. Der geneigte Leser mag mir bei der folgenden Schilderung vergeben, dass ich in Eriks Diskographie noch nicht so firm bin und alles Gespielte direkt beim Namen nennen kann...der Einstieg ist massiv, es donnert und regnet, und man merkt direkt an Qualität der Sounds, dass auch zwei Tontechnik-Profis hier aufspielen. Die Effekte kommen sauber und kristallklar aus den Lautsprechern und erzeugen die gewünschte Atmosphäre. Über die kann man dann im nächsten Schritt die erste Sequenz legen. Mit einem Gewitter endet der erste Titel, und die aufgebaute Energie nehmen Erik und Joseph locker in das zweite Stück mit. Dieses Mal kommt die Kraft ein wenig gebändigter daher. Allzuviel davon in unkontrollierter Form ist auch nicht ideal. Ob es daran liegt, dass der erste Versuch, in den dritten Titel einzusteigen, etwas verstolpert wirkt? 'Das ging in die (XLR-)Buchse' ist der launische Kommentar, und im zweiten Anlauf klappt das Andockmanöver an die ISS. Nachdem die Verbindung stabil ist, schnallt Erik sich die Keytar um. Während er mit der spielt, lässt er seine sonstigen Keyboards aber nicht verwaist, er spielt teilweise beidhändig.
Zurück auf der Erde, fließt die Sequenz fett. Wo sind wir jetzt angelangt? Nach den Weiten des Weltalls in der Welt der kleinsten Dinge. Elementarteilchen und wie sie im LHC untersucht werden, war vor einigen Jahren Inspiration für das Album 'The Core'. Auch in dieser Welt geht es nicht minder spannend zu, und es sollte Anlass sein, dieses Album noch einmal aus dem Regal zu holen.
Auch wenn man es gar nicht bemerkt: Jeder dieser Titel ist mit zweistelliger Spielzeit daher gekommen, und so ist es bereits an der Zeit für die bereits angekündigte Zugabe. Wie Erik erzählt, ist der Spielfilm 'Le Grand Bleu' aus den 80er-Jahren die Inspirationsquelle für das kommende Album. Darin ging es um Apnoe-Taucher, aber wir brauchen natürlich selber nicht die Luft dabei anzuhalten. Der Titel ist noch neu und hat noch ein paar Ecken und Kanten. Irgend etwas will bei Erik nicht so recht funktionieren, also kommt Joseph kurz herüber - Aha! Es dröhnt los, und wir sind alle wieder ganz wach und Ohr. Walgesänge, Wellenrauschen und Flächen vermitteln einen Eindruck von der Weite und Tiefe der Ozeane. Die Beats sind genauso wuchtig, vielleicht dieses Mal sogar noch ein wenig mehr. Schall breitet sich unter Wasser viel schneller aus als in der Luft, und tiefe Töne auch noch einmal besser. All dem kann im letzten Titel des zweiten Konzerts nachspüren. Das hinterlässt durchgängig zufriedene Gesichter. Auch wenn nicht alles ganz perfekt geklappt hat, sind die seltenen Auftritte dieses Duos immer ein absolutes Erlebnis, und schmücken einen Spielort wie diesen.
Was kommt nach dem zweiten Konzert in der Pause? Richtig geraten, das zweite Interview des Tages, und wieder ist einer der aktiven Musiker Gesprächspartner von Ecki Stieg. Dieses Mal sitzt ihm Thorsten Quaeschning gegenüber, der als Haupt-Act heute Abend zu vorgerückter Stunde spielen wird. Als musikalischer Leiter von Tangerine Dream ist Thorsten natürlich eine absolute Autorität auf seinem Gebiet, und so ist es mucksmäuschenstill im Saal, wenn er auf Eckis Fragen eingeht. So zum Beispiel auf die, seit wann er Paul Frick kennt. Paul ist das jüngste Band-Mitglied, aber man kennt sich schon viel länger, mindestens seit 2008, und Paul hat in den Jahren auch seine eigene persönliche Musikkarriere gestaltet - und tut das weiter, ebenso wie Thorsten und Hoshiko ihre Solo-Projekte verfolgen. Hoshikos Beitrag zu der Musik von Tangerine Dream wird übrigens gerne unterschätzt, der reicht deutlich über das Violinenspiel hinaus. Mit ihrer Batterie von Effektgeräten gestaltet sie den aktuellen TD-Sound wesentlich mit. Und überhaupt, TD, wie viele Konzerte haben sie in den letzten Jahren gespielt? Aus den Corona-Jahren waren ja noch so viele Termine nachzuholen.
Die Corona-Pandemie hatte Thorsten aber auch den Anstoß für sein 'Behind Closed Doors'-Projekt gegeben. Er wollte sich nicht auf die faule Haut legen, und wollte auch kein Subventionen haben. So hat er aus der Not eine Tugend gemacht. 'Dank' Corona waren Musiker und Locations für dieses Performances frei, die man unter normalen Umständen nie hätte buchen können. 'Behind Closed Doors' hat über die Corona-Zeit hinaus Effekte gehabt, und war auch mit der Grund für den Schallwelle-Preis im Jahr darauf. Und schlussendlich, wie Thorsten sich auf den Auftritt heute vorbereitet hat? Wie vor jedem Konzert, hat er die 'Eigenschwingung' des Gebäudes gesucht, und die Tonart, bei der Saal mitresoniert. Man konnte schon beim Soundcheck fühlen, dass er beides gefunden hat. Wir sind gespannt!
Nun ist es aber wirklich an der Zeit für die große Pause. Nicht wenige nutzen sie, um die Umgebung ein wenig zu entdecken. Es ist ja unter Umständen das erste Mal, dass man nach Lemgo kommt. Für mich und meine Begleitung ist es an der Zeit, ins Hotel einzuchecken, man will abends um kurz vor Mitternacht ja keine bösen Überraschungen erleben. Wie der Check-In gelaufen ist? Nun ja, das ist eine Geschichte für sich. An dieser Stelle nur die Anmerkung, dass allzu viel High-Tech auch nicht immer optimal ist...
Zurück im Atrium, erfahren wir von einer Programmänderung: Die dritte und abschließende Interview-Runde wird vorgezogen und findet jetzt, unmittelbar vor dem dritten Konzert statt. Und dieses Mal stehen gleich drei Stühle vor den Zuschauerreihen. Einer davon bleibt für den Moment leer, denn Ecki wird erst einmal Winfrid Trenkler alleine ein paar Fragen stellen. Dafür steigt er mit seinem eigenen Alter ein, und dass man sich ausrechnen kann, dass WDR-Radiosendungen wie 'Rock In' und Mal Sondock einen großen Teil zu seiner 'musikalischen Erziehung' beigetragen haben. Aber wie bekam Winfrid überhaupt seine eigene Sendung, die als 'Pro Pop Music Shop' begann?
Es war 1971, er hatte eine ganze Menge Ideen, was er an damals neuer Musik abseits vom Mainstream ins Radio bringen wollte, und fand einen Programmdirektor, der ihn dafür nicht sofort wieder heraus geworfen hat. Er bekam einen Sendeplatz, wo im Fernsehen parallel 'Der Kommissar' lief, damals noch ein Strassenfeger. Also eine Uhrzeit, zu der nicht allzu viele Radio hören würden, sollte sich die Sendung zu einem Fiasko entwickeln. Das hat sie nicht, wie wir alle wissen, erst wurde daraus 'Rock In', dann kamen 1984 die 'Schwingungen' dazu. 1995 kam dann die unselige Senderreform des WDR, nach der für so eine Spartensendung kein Platz mehr war. 'Schwingungen' lief aber noch viele Jahre auf CD weiter.
Wie seine Meinung zur heutigen Radiolandschaft ist? Die fällt durchaus diplomatisch und nicht völlig negativ aus. Er würde ja viel Negatives von anderen darüber hören, aber Musik ist und bleibt eben Geschmackssache. Das wichtigste ist die Befriedigung, die man selber aus der Musik zieht. Und dann die Frage aller Fragen: Ob es ihn denn reizen würde, noch einmal Radio zu machen? Die elektrisierende Antwort: Ein einfaches 'Ja', und gerne auch wieder mit Harald Grosskopfs Klassiker 'Soweit, so gut' als Jingle!
Ob aus so einer Antwort wirklich einmal ein konkreter Plan wird, ist natürlich eine ganz andere Sache. Aber wie dem auch sei: wir haben den Übergang zu dem nächsten - und letzten - Gesprächspartner des Tages, das ist nämlich Harald Grosskopf 'himself'. Musikalisch ist er ja nach wie vor aktiv, noch in diesem Herbst wird ein neues Album erscheinen. Aufhänger für dieses Interview ist aber ein anderer. Wer Harald schon einmal persönlich erlebt hat, der weiß, dass er ein großartiger Geschichtenerzähler ist. Einige dieser Geschichten und Anekdoten hat er zu einem Buch verarbeitet. 'Monsieur Séquenceur' wird im kommenden Monat erscheinen. Hier und heute wird Harald eine Geschichte aus seiner Jugendzeit verlesen. Die Zeiten waren rau und hart, und wenn dem Publikum das Gebotene nicht gefiel, dann wurden auch schon einmal die Sitze zerlegt und auf die Bühne geworfen. An einem Abend war der Vor-Band auf der Bühne eines kleinen Kinos genau das passiert. Dementsprechend ging er mit weichen Knien heraus, nicht wissend, ob er diesen Saal mit heiler Haut wieder verlassen wird. Aber sein Spiel gefiel der örtlichen Rocker-Band (mit 'Kreidler Florett' unterwegs...), und das so gut, dass sie ihn ein paar Tage später auf der Strasse anhielten. Anstatt einer Abreibung bekam Harald anerkennendes Schulterklopfen...
Man darf auf das komplette Buch gespannt sein. Ebenso gespannt sind wir aber jetzt, wie Manuel Richter seine im ersten Interview ausgeführten Gedanken in die Praxis umsetzt. Denn jetzt wird die Bühne für 'Xabec' frei gemacht. Die Geräte der ersten beiden Konzerte sind abgebaut, stattdessen steht dort ein Tisch, auf dem Manuel seine Klangerzeuger ausgebreitet hat. Dass dieser Auftritt ein ganz anderer sein wird, das weiß jeder, der Manuel im letzten Herbst auf dem Phobos-Festival in Wuppertal erlebt hat. Dort haben Frank und Hans-Hermann ihn kennen gelernt und beschlossen, den 'Blick über den Tellerrand' dieses Mal in Richtung Ambient zu richten.
Manche sind ja der Meinung, 'Ambient' wäre einfach nur langweilig und einförmig und die einzige Aufgabe des Spielenden wäre, die Ton- und Rauschgeneratoren gelegentlich etwas herauf oder herunter zu drehen. Aber wenn man sich auf die Musik einlässt - das muss man natürlich machen, so wie bei anderen Form von Musik auch - so erkennt man, dass hier ein subtiles Klanggebäude errichtet wird, für das das Motto 'weniger ist mehr' gilt. Die sphärische, flächige Basis ist natürlich da, aber das ist so etwas wie eine Leinwand, auf die die einzelnen Sounds gelegt werden. Töne werden live eingespielt, aufgenommen und verfremdet, und werden als Loops dann Teil dieser Basis, die sich über das einstündige Konzert sukzessive verändert. Die bereits angesprochene Soundbox ist dabei eine wichtige Quelle, aber bei weitem nicht die einzige. Manuel verwendet seineeigene Stimme ebenso, mal in ein normales Mikrofon, aber auch ins Handy.
Das Ergebnis ist hypnotisch und zieht in den Bann, sofern man sich darauf einlässt. Das ist schon kein Konzert mehr, das ist eine elektronische Andacht, in der dem einzelnen Ton gehuldigt wird. Wer nicht glauben mag, wie empfindlich die Mikrofone in der Soundbox sind: Schon ein einzelner Faden vom Geigenbogen genügt, den Stäben auf der Box wahrnehmbare Schwingungen zu entlocken.
Gegen Ende des Konzerts verebben die Flächen, um Raum für ein minimalistisches Piano-Solo zu lassen. Es ist mittlerweile draußen dunkel geworden, und man hat mit dem wenigen Tönen das Gefühl, irgendwo im Freien auf einer Lichtung zu sitzen und in den dunklen Wald hinein zu horchen. Das mit so reduzierten Mitteln hinzubekommen, ist bemerkenswert, und man braucht am Ende des Konzerts wieder einen Moment, um ins Hier und Jetzt zurück zu kehren. Dann kommt aber der wohl verdiente Applaus, und mit ihm die Gewissheit, dass das Experiment gelungen ist - im Circus funktioniert auch Ambient!
Manuel steht nach dem Konzert an seinem CD-Stand noch eine ganze Weile Rede und Antwort. Daran, dass am Ende fast alles verkauft ist, mag man ermessen, wie gut dieses Konzert angekommen ist. Es bietet eine Menge Gesprächsstoff, gerne auch draußen vor dem Atrium. Die Temperaturen sind dort jetzt angenehm frisch und man verlässt den 'Glaskasten' gerne mal für ein paar Minuten. Auch mit dem Wetter hat das EC-Team an diesem Tag Glück gehabt - es wird in der Woche darauf deutlich kühler und feuchter werden.
Diese angenehme Spätsommer-Atmosphäre können wir länger genießen als geplant, denn die Tür zum Saal bleibt einstweilen geschlossen. Zusammen mit der Planänderung bei den Interviews hängen wir dem Zeitplan eine knappe Stunde hinterher, als sie sich endlich wieder öffnet. Gut, dass die Sache mit dem Hotel bereits geklärt ist...
...denn so kann ich jetzt in aller Entspanntheit verfolgen, was Thorsten aus dem Thema 'Electronic Church Bells' macht. Genug Equipment steht auf der Bühne: Die Keyboards sind wie die Ständer, auf denen sie stehen, alle weiß beklebt, wie man es von aktuellen TD-Konzerten kennt. Hinter ihm stehen mehrere Reihen von Racks - ein Aufbau, mit dem er mit TD normalerweise nicht auf Reisen gehen kann, wie er im Interview verraten hat. Die Aufwände beim Transport und Zoll wären einfach zu hoch.
Um einen - ganz weit hergeholten - Vergleich mit dem vorherigen Konzert zu ziehen: Auch Thorsten baut einen Klangteppich auf, aber ähnlich wie auf seinen 'Session'-Soloalben hat der eine gänzlich andere Konsistenz. Er ist voluminös, wuchtig, und die Sounds stecken eher in ihm, als das sie darauf liegen. Mit ein paar besonders dicken davon testet er die Resonanz des Raumes, und ein Lächeln geht über sein Gesicht, als er sie getroffen hat. Auch wenn das Gespielte ein langer Track ist, so kündigen Wechsel darin immer wieder einen neuen Part an. Auf schwere Sounds folgen zierlichere, die Raum für Streicher lassen, und wieder im Grundton ausklingen.
Teil Nummer drei beginnt mit einer kleinen dramaturgischen Einlage: Demonstrativ reißt Thorsten ein paar Streifen Klebeband von der Rolle ab und fixiert damit ein paar Tasten auf den Keyboards. Für das, was jetzt kommt, reichen zehn Finger alleine wohl nicht mehr aus. Eine neue Sequenz wird eingestellt, und die wird mit der Zeit immer schräger - so als ob er sich bemühen müsste, sie wieder einzufangen. Und in der Tat, das Chaos verebbt, und das Klangbild schraubt sich in ungeahnte Höhen. Und ich könnte schwören, da steckt ein gutes Stück 'Logos' drin...
...die eigentliche Überraschung des Abends folgt aber nun. In den Ankündigungen war bereits von 'Alien Voices' die Rede, dem Duo aus Kolja Simon und Felix Mönnich. Es muss mindestens ein Jahrzehnt her sein, das ich ihren Kehlkopf- und Obertongesang zum letzten Mal gehört habe. Aber es gibt sie noch, und sie haben in all den Jahren nichts verlernt. Ganz im Gegenteil, sie können ihre Stimmen mühelos so modulieren, das es zu dem Rhythmus passt, den Thorsten vorgibt. Nach und nach wandert der in den Hintergrund und lässt die Stimmen nach vorne treten. Alles wird ein bisschen ruhiger, und man hat den Eindruck, dass es aufs Ende zugeht.
In der Tat: Kirchenglocken läuten nicht nur das Ende des letzten Konzerts ein, sondern auch den Beginn eines neuen Tages. Oder wie Thorsten es in seinen letzten Worten ausdrückt: 'Welcome to the other side of midnight'. Denn es ist mittlerweile kurz nach zwölf, eine gute Stunde später als geplant. Nicht alle konnten bis ganz zum Schluss bleiben, aber die, die noch da sind, haben einen würdigen Abschluss des ersten Electronic Circus in einem Kirchengebäude erlebt.
Vieles hat an diesem Tag richtig gut funktioniert und beeindruckt, und das Team um Hans-Hermann und Frank darf stolz auf das Erreichte sein. Der EC 2025 darf auch gerne wieder hier in Lemgo stattfinden. Mit welchen Acts? Man hat in Gesprächen so die eine oder andere Idee und Planung aufgeschnappt. Aber davon ist noch nichts spruchreif. Wir werden es beizeiten erfahren, und dann wieder unser Ticket für den Electronic Circus lösen. Sei es, dass der noch ein Jahr in Lemgo gastiert, oder wieder weiter zieht...
Alfred Arnold