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Eine würdige Neueröffnung - S.A.W. im 'De Stoelendans'

Wann haben wir uns eigentlich zum letztem Mal in Oirschot gesehen? Ich bin sicher nicht der einzige, der sich auf den Weg dorthin diese Frage gestellt hat.  Ich habe für eine Antwort in meinen eigenen Berichten nachgeschaut: Es war im Herbst 2019, das letzte E-Live in 'De Enck'.  Halloween stand gerade vor der Tür, und das Aufmacher-Foto illustrierte das auch entsprechend. Nicht vor, sondern hinter sich glaubte man damals die Sorgen um den Bestand dieser Location.  Die Stadt hatte nach Protestaktionen zugesagt, ihre finanzielle Unterstützung fortzusetzen. Von einem Virus ahnte man noch nichts, und dass dieser die Veranstaltungs- und Gastronomiebranche in zum Teil  existentielle Schwierigkeiten bringen sollte. Im Falle von 'De Enck' besiegelten sie dessen Schicksal, und Ron Boots musste sich für E-Day und E-Live einen neuen Ort suchen.  So zogen beide nach der Corona-Zwangspause von Oirschot nach Eindhoven um.

S.A.W. Oirschot 2024

Vor ein paar Monaten kamen dann überraschende Meldungen aus dem Hause Groove: 'De Enck' hat unter neuem Namen wieder eröffnet, und Ron hat zu den neuen  Betreibern Kontakte aufgebaut. Die sind inzwischen so gut und stabil, dass er mit seinen Events wieder nach Oirschot zurück wechseln kann.

Jetzt war das CKE in den letzten Jahren beileibe kein schlechter Spielort, und wer mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreist, wird die Nähe zum Eindhovener Bahnhof geschätzt haben. Aber Hand aufs Herz: 'De Loop 67' in Oirschot ist ein ganz besonderer Ort, einfach durch die lange Tradition. Mein erster Besuch muss irgendwann um 2010 gewesen sein, mit David Wright als Haupt-Act. Nicht zu vergessen: Was noch drumherum an so einem Tag passierte. Mancher deckte sich bei der Gelegenheit bei den Supermärkten nebenan mit Dingen ein, die im deutschen Discounter nicht zu haben sind. Und in der großen Pause trifft ein nicht kleiner Teil der Besucherschaft sich in der Pizzeria 'Il Tavolino' wieder - ohne Tischreservierung keine Chance...

Sollte es also alles wieder so wieder wie früher werden?  Oder genauer, kann es das überhaupt? Vielleicht war sich Ron Boots der Sache selber nicht ganz so sicher, als er  beschloss, nicht gleich mit einem 'All-Dayer' im 'De Stoelendans' zu beginnen - so lautet der neue Name von 'De Enck'. Den Anfang mach stattdessen eine reine Abend-Veranstaltung mit einen Doppelkonzert. Die hat es aber in sich:

Seit einigen Jahren pflegt Ron gute Kontakte zu Johannes Schmoelling und hat ihn schon mehrfach zu seinen Festivals als Haupt-Act holen können. Zuletzt war das E-Live 2023, wo Johannes' Soloalbum 'Iter Meum' im Mittelpunkt stand. Seit langer Zeit arbeitet Johannes mit Kurt Ader und Robert Waters zusammen, und als 'S.A.W.' treten die drei auch auf Alben und der Bühne auf - bisher aber noch nicht bei Ron. Dies soll zur Einweihung von 'De Stoelendans' heute passieren.  S.A.W. sind aktuell auf einer Mini-Tour und haben vor einer Woche in Wilhelmshaven gespielt, nach Oirschot wird es nach München weiter gehen.

Wie auch schon in Wilhelmshaven, wird Ron sich an dem Abend an dem 'Vor-Act' beteiligen. Dieser Begriff ist aber eigentlich nicht angemessen, denn er wird das mit Gert Emmens und Harold van der Heijden tun. Wer sich an den genialen Auftritt dieses Trios in Eindhoven erinnern kann, würde sich vielleicht alleine schon dafür auf den Weg nach Oirschot gemacht haben.

Das Line-Up steht also und die Erwartungen sind hoch, als ich am frühen Abend auf den Parkplatz des Einkaufs- und Kulturzentrums fahre. Dort ist viel frei und eine Parkscheibe braucht man zu dieser Uhrzeit auch nicht mehr - das wird im Oktober bei E-Live anders sein. Vom Parkplatz geht der wohl bekannte Weg ins Foyer, wo man gegen Abhaken des Namens auf der Liste ein (grünes) Bändchen und Einlass erhält. Hier im Foyer hat sich in der Tat einiges verändert: Die Theke reicht jetzt weit in den Raum hinein und teilt ihn beinahe in zwei Hälften. In den Ecken gibt es auf Podeste gesetzte Tische, von denen man ein wenig Überblick über das Foyer bekommt - auch als Fotograf. Und vielleicht lassen diese Podeste sich im Oktober auch als Mini-Bühne für den Pausen-Act nutzen? Wir werden sehen...

Was sich nicht geändert hat: Getränke werden gegen Plastik-Chips ausgegeben, die gesondert zu erwerben sind. Falls jemand noch solche mit dem Aufdruck 'De Enck' hat: Die sind nur noch etwas für den Setzkasten, 'De Stoelendans' verwendet Chips mit anderem Aufdruck. Fast alle Getränke kosten einheitlich einen Chip, und für einen Kaffee reicht die Zeit noch, bis die Schlange vor dem Eingang dazu gemahnt, sich für einen guten Platz anzustellen.

Im Saal selber hat sich im Gegensatz zum Foyer kaum etwas verändert.  Wir sichern und einen Platz in der ersten Reihe. Dort schaut man zwar etwas 'von unten' auf die Musiker, kann aber auch mal für eine Nahaufnahme aufstehen. Die ersten Fotos sind - wie üblich - natürlich vom Gastgeber des Abends: Eine kurze Begrüßung in 'De Stoelendans' und eine Erinnerung, die 'alte De Enck-Hasen' nicht brauchen: Die Tiefgarage unter dem Parkplatz schließt um 20 Uhr, wer also dort geparkt hat, sollte sein Auto JETZT heraus fahren - sonst wird es teuer oder es bleibt dort bis Montag morgen!

Eigentlich könnte Ron nach der Ansage direkt zu seinem 'Arbeitsplatz' gehen, er verlässt die Bühne aber noch einmal kurz. Gert, Harold und Ron spielen heute zusammen, und zusammen kommen sie auf die Bühne.

In Frühjahr im CKE war gemeinsames Material von Ron und Gert die Grundlage, vor allem das gemeinsame Album 'Lost in Depths of Isolation'.  Schon nach den ersten Takten wird aber klar, dass der Weg heute in eine leicht andere Richtung gehen wird. Gert gibt den Einstieg vor, Harold und Ron steigen dazu ein, und die Musik wird sehr filmisch - das ist der Sound, wie ich ihn von Gerts Soloalbum 'City Never Sleeps' in Erinnerung habe.  Mit Harold und Ron wird der Sound natürlich noch um einiges voller, und auf ein Zeichen von Gert hin hebt das Trio förmlich ab - was für ein beflügelnder Einstieg!

Im zweiten Track hält Harold sich mit seinem Schlagzeug ein wenig zurück, was Gert Raum für eines seiner bekannten Jazz-artigen Impros gibt. Chöre fungieren als Brücke zum dritten Titel, in den das niederländische Trio einige schöne 80er-Jahre TD-Sounds eingebaut hat - eine Anspielung auf das, was heute noch kommen wird?  Einen Zwischenapplaus ist das bisher gebotene auf jeden Fall wert. Es geht aber munter weiter: Eine feine Melodie, die zur Sequenz und dem längsten Stück dieses Auftritts überleitet. Jetzt kann man in den Sounds versinken und wegträumen, und auch die Musiker müssen den Weg aus diesem Tunnel erst einmal finden. Es wird ein harter Schnitt, vielleicht auch um klar zumachen, dass die Führung jetzt zu Ron wandert: Eine perlende und wuchtige Sequenz, wie man sie von ihm kennt. Nicht umsonst hat man ihm ja auch mal den Titel des 'Mister Bombastic' verpasst.

Zum Schluss darf Harold auch noch einmal zeigen, was in ihm steckt: Der Rhythmus von "Lost in Depths of Desolation" ist wie eine tickende Uhr, die unerbittlich klar macht, dass es auf das Finale dieses Auftritts zu geht. Aber das ist noch einmal eines der furiosen Sorte, wo alle drei noch einmal alles geben. Ich höre danach Kommentare, das wäre der eigentliche Haupt-Act des Abends gewesen - in solcher Spiellaune waren Ron, Harold und Gert heute.

Wie dem auch sei: Diejenigen, die erst zum zweiten Konzert nach Oirschot gekommen sind, haben etwas verpasst. Es muss davon einige geben, denn das Foyer wirkt jetzt deutlich voller zu Beginn des Abends. Eine Aktion, die in der Pause läuft: Eine Unterschriften-Aktion gegen die Einstellung der Sendung 'Elektro-Klang' mit Olaf Zimmermann. Olaf ist auf dem RBB mit seiner Sendung eine ähnliche Institution gewesen, wie es Winfrid Trenkler mit 'Schwingungen' war. Die Nachricht von der Einstellung schlug vor einem guten Monat kam unerwartet und schlug wie eine kleine Bombe ein. Die genauen Hintergründe sind bis heute unklar: Ob die Sendung wirklich abgesetzt wurde, oder ob Olaf einfach in Rente geht und es keinen ähnlich kompetenten Nachfolger gibt, ist zumindest mir bisher nicht klar.  So oder so muss man aber den 'Oberen' aber einmal mitteilen, was man mit dem Auftrag öffentlich-rechtlichen Rundfunks verbindet, nämlich auch Formaten Raum zu geben, die unter rein kommerziellen Aspekten keine Chance hätten. Und so landet auch meine Unterschrift auf der Liste. 

Wenig später bildet sich auch schon wieder die Schlange vor dem Eingang zum Saal. Es ist Zeit sich anzustellen. Große Taschen und Rucksäcke sind übrigens genauso wie in Zeiten von 'De Enck' nicht im Saal erlaubt. Sie wären im Fall einer Panik Stolperfallen und man lässt sie besser im Wagen oder gibt sie an der Garderobe ab.  Dann läuft der Einlass glatt und man kann sich einen Platz mit guter Sicht auf die Bühne sichern. Die Setups von Ron, Harold und Gert sind in der Pause natürlich fix abgebaut worden, und Ron hat viel Platz, als er seine kurze Einleitung hält: Natürlich geht er noch einmal auf Johannes' Auftritt vor einem Jahr ein, und dass damals schon der Plan für den heutigen Abend reifte.

Das Konzert ist mit dem Untertitel 'From Tangerine Dream To Hydragate' versehen, die Auswahl wird also Johannes' Karriere von den frühen 80ern bis zur Jetzt-Zeit umfassen. Das heißt aber nicht, dass diese Reise streng chronologisch ablaufen muss: Den Anfang machen im Gegenteil Titel von S.A.W.-Alben der letzten Jahre. Die sind alle keine 'Langläufer' nach EM-Maßstäben, aber jeder ist für sich ein abgeschlossenes, und fein ausgearbeitetes Meisterwerk, in dem ein bestimmtes Thema musikalisch interpretiert wird: 'Sphere' zum Beispiel beschäftigt sich mit der (Welt-)Kugel, und dem Lebensraum, die sie uns allen bietet. 'Return To Sender' hat den Flug der Voyager-Sonde zum Thema, insbesondere die Schallplatte, die als 'klingender Botschafter' mit auf die Reise gegangen ist. Sie enthält unter anderem Stücke von Mozart, Beethoven und Bach.  Wenn Johannes neue Musik komponiert, dann kann man davon ausgehen, dass er mit seiner klassischen Ausbildung auch immer ein klein wenig davon mit hinein packt.

Aus den Weiten des Weltalls geht es wieder zurück in die hektische Welt der modernen Zivilisation, um mit 'Empire' ins eigene Ich zurück zu kehren. Wo ist die Weisheit, fragt ein an die Wand projiziertes Zitat. Nicht im Ozean, der ist in der Hinsicht leer. Weisheit finden wir nur in uns selber.  Für die Projektionen zeichnet wie auch schon im letzten Jahr Andreas Merz verantwortlich, der zwar auch auf der Bühne, aber ein wenig verdeckt im Hintergrund agiert. Auffallend ist die durchgängig hohe Qualität und Auflösung aller Visuals.

Diese knappe halbe Dutzend Titel war der erste Teil des Konzerts. Für den zweiten Teil tritt Johannes nach vorne und stellt als erstes seine Mitmusiker vor. Dann erzählt er in seiner freundlichen, ruhigen und bescheidenen Art, für die ich ihn so bewundere, was wir im zweiten Teil erwarten dürfen: Es geht zurück in die erste Hälfte der 80er-Jahre, als er Mitglied bei Tangerine Dream war. Ein Teil des S.A.W.-Projekts ist es, den authentischen Sound der TD-Alben aus diesen Jahren wieder auferstehen zu lassen. Tangerine Dream und Edgar haben viele Tracks dieser Zeit im späteren Jahren neu aufgenommen und neu arrangiert, aber hier soll es um den 'Original-Sound' gehen.  Dafür werden auch Original-Instrumente aus der Zeit, oder zumindest digitale Samples davon eingesetzt.

Den Einstieg macht mit 'Tangram' gleich das erste Album, an dem Johannes mitgearbeitet hat. Es stellt einen Übergang von den langen, Sequenzer-getragenen Alben der 70er-Jahre zu den melodischeren 80er-Jahren dar, und Teile daraus wurden im legendären Konzert im Palast der Republik verwendet. Wir sehen Bilder von diesem Konzert, und von der sich daran anschließenden 1981-Tour durch die Vereinigten Staaten. Es war TDs erste USA-Tour seit 1977, und ein Test, wie das amerikanische Publikum das neue Lineup annehmen würde.

Während dieses Teil bewegt sich Johannes auch aus seiner 'Keyboard-Burg' heraus und setzt sich ans E-Piano. Wer gehofft hatte, Johannes würde heute wieder auf einem großen Konzertflügel spielen, und den 'magischen Moment' von 2011 wiederholen, ist vielleicht ein klein wenig enttäuscht. Aber Johannes hat sich auf diese Aufgabe sicherlich mit der gleichen Akribie vorbereitet, wie er es auch bei einem akustischen Instrument getan hätte. Und der Zauber, den diese Zeitreise ausstrahlt, ist der gleiche - der gleiche, den wir im folgenden Titel erleben:

Die Titelmusik zum Tatort-Krimi 'Das Mädchen auf der Treppe', die Tangerine Dream als 'White Eagle' veröffentlicht hat, gilt als TDs größter kommerzieller Erfolg. Auch davon hat es über die Jahre Neuinterpretationen gegeben. Die Originalversion, wie wir sie in den letzten Minuten dieses Konzerts hören, ist meines Erachtens aber immer noch der 'Goldstandard', denn sie transportiert für mich das Gefühl der schwebenden Leichtigkeit, wie man sie als Adler in den Lüften empfinden muss.

Die Letzten Minuten?  Ist das Konzert hier schon zu Ende? Andreas, Robert, Kurt und Johannes treten nach vorne und verbeugen sich. Irgendwie ist die Zeit im wahrsten Sinne wie im Fluge vergangen. Und nein, natürlich ist die Zeitreise durch die 80er Jahre noch nicht vorbei. In der Zugabe reisen wir weiter ins Jahr 1983, als Tangerine Dream durch Polen tourte und im Jahr darauf 'Poland' veröffentlichte. Und wir sehen danach die Übersetzung der Worte, die auf russisch auf der 'Exit' gesprochen wurden: Kontinente, Verstehen, Kommunizieren, Gespräch, Frieden - ein Thema, heute so aktuell wie damals.

Johannes Gesichtszüge wirken bei der neuerlichen Verbeugung um einiges entspannter, zufriedener, und glücklicher. Er scheint in Stimmung zu sein, und so setzt er sich für die zweite - und jetzt wirklich letzte - Zugabe des Abends noch einmal ans E-Piano. Welcher Titel es genau ist? Ich weiß es gar nicht mehr, aber für mich ist es eine Ode an die Freude, und an die Freundschaft. Vier Freunde verbeugen sich noch ein letztes Mal, dann ist der erste EM-Abend in 'De Stoelendans' zu Ende. Ron weist natürlich noch einmal auf E-Live im Oktober hin, und Johannes wird im Foyer noch den einen oder anderen Tonträger signieren. Hätte ich auch ein paar davon mitbringen sollen, unter anderen die 'Poland', die ich 1986 als Schnäppchen auf dem Schulhof gekauft hatte? Als Schüler konnte man sich ja noch nicht alles neu leisten, was man begehrte. Andererseits: Die wirklich wichtigen Erinnerungen trägt man im Kopf mit sich herum, diese Weisheit habe ich am heutigen Abend einmal wieder bestätigt bekommen. Dieser Abend in 'De Enck' wird darin mit eingehen, zusammen mit der Vorfreude auf E-Live im nächsten Monat. Dann fahren wir wieder alle nach Oirschot, wo Ron Boots Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der EM miteinander verbindet.

Alfred Arnold

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.