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Doppelter Genuss unter den Sternen

Zu den Traditionen des Schallwende-Vereins gehört 'Hello' am 30. Dezember im Planetarium Bochum. Ab und zu gelingt es jedoch, noch einen weiteren der raren Termine zu ergattern, so dass die Freunde elektronischer Musik diese unter dem Bochumer Kuppelrund genießen können. Am diesem Frühherbst-Abend im September ist es wieder einmal so weit, und eben weil die Termine so rar gesät sind, hat man diesen gleich für ein Doppelkonzert genutzt: Bernd Scholl ist für seine meditativen, naturnahen und sehr entspannten Klänge bekannt. Seine Konzerte in der Neanderhöhle sind schon fast eine Institution, aber auch in Planetarien ist er ein regelmäßiger und gern gesehener Gast. Wenn ich mich recht erinnere, war sogar mein erstes Konzert in der Bochumer Kuppel eines mit Bernd Scholl, damals zusammen mit Gandalf.

Bernd Scholl & Steve Baltes 2024

Heute teilt Bernd sich die Bochumer Bühne aber mit einem anderen Musiker: Steve Baltes hat hier auch schon mehrfach gespielt, zum Beispiel mit Stefan Erbe, oder zuletzt bei Hello 2022. Das Spektrum der Stile, die er ansprechen kann, ist weit gefächert. So dürfen wir gespannt sein, ob er sich heute eher in Richtung von Bernds Musik bewegt oder einen bewussten Kontrapunkt setzt.

Wie an so einem Tag üblich, ist das Konzert das letzte Event des Tages im Planetarium. Über den Tag sind reguläre Musik- und Sternenshows gelaufen, und die letzte davon ist gerade zu Ende gegangen, als wir an der Castroper Straße eintreffen. Das Foyer füllt sich erst nach und nach mit Besuchern, und so hat man Gelegenheit, alte Bekannte in alle Ruhe zu begrüßen. Auch heute wird sich wieder ein nicht kleiner Teil der 'EM-Familie' rund um den Schallwende-Verein hier versammeln, nicht nur um Musik und Projektionen zu genießen, sondern auch um sich auszutauschen: Wie geht's, wo warst Du zuletzt, was ist Dein nächster Termin? Kennst Du schon das neueste Album von ...?

A propos neues Album: Stefan Erbe hatte sich für dieses Jahr ja ein kleines 'Sabbatical' auferlegt, was Live-Termine angeht. Untätig ist er dabei aber beileibe nicht gewesen. Vor wenigen Monaten überraschte er uns mit seinem neuen Album 'Retrologica', auf dem sich bisher nicht oder nicht in dieser Form veröffentlichte Tracks finden. Unter anderem auch wegen seiner (CD-)Überlänge war es eigentlich nur als Download-Release geplant, aber für seine treuen Fans gibt es jetzt doch eine CD-Release: Auf einem speziellen 100-Minuten-Rohling verewigt, in einem aufschraubbaren, selbst gedruckten CD-Case und mit Filz gepolstert - und natürlich nur in einer ganz kleinen Auflage. Aus dem gleichen (3D-)Drucker dürften die Astronauten-Schlüsselanhänger stammen, die gleich daneben auf neue Eigentümer warten.

Der Saal wird an diesem Abend übrigens nicht ganz ausverkauft, aber doch so voll sein, dass Frau Professor Hüttemeister zufrieden sein wird. Die Anmoderation macht der Vorsitzende Klaus Sommerfeld heute alleine.  Seine Worte scheinen aus dem Off zu kommen, wo ist er denn? Ach so, hinten beim Technik-Pult, von wo aus Klaus-Dieter Unger auch heute wieder die Projektortechnik unter Kontrolle halten wird.  Während er redet, wandert Klaus nach vorne zur Bühne. Dabei berichtet er nicht nur von den heutigen beiden Acts, sondern kann auch noch eine weitere erfreuliche Neuigkeit verkünden: Die neue Schallplatte ist fertig! Mitglieder, die heute anwesend sind, können ihr Exemplar gleich in der Pause mitnehmen - das spart dem Verein den Versand.

Danach wandert das Mikrofon weiter zum Bernd Scholl, der die erste knappe Stunde mit Musik füllen wird. Er erinnert daran, wie oft (und gerne!) er schon hier gespielt hat. Das letzte Mal ist allerdings schon etwas her.  Umso mehr freut es ihn, dass die lange Pause heute endet. Der Jahreszeit angemessen, wird er einige Titel aus seinem aktuellen Album 'The Winds of Autumn' spielen, aber natürlich wird auch der eine oder andere Evergreen aus seinem Repertoire mit von der Partie sein.

Wie versprochen, wehen uns zum Einstieg aber erst einmal die Herbstwinde ein wenig um die Ohren. Klaus-Dieter Unger gestaltet dazu die Abenddämmerung an der Kuppel, die nach und nach in den Nachthimmel übergeht. Der ist nur sparsam von Objekten erleuchtet. Wir sehen die Sterne und die Milchstraße, während Bernd uns mit seinen Klängen in eine meditative Stimmung versetzt. Andere Musiker würden uns in so einem Ambiente in die Weiten des Alls hinfort tragen. Heute bleiben wir jedoch bei dem, was auf der Erde unter dem Himmelszelt so vorhanden ist: Die Natur, und wir Menschen, die verschiedenen Erdteilen ganz unterschiedliche Kulturen geschaffen haben. Der Himmel wird heller, und auch musikalisch begeben wir uns Richtung Osten, wo die Sonne aufgeht. Die Klänge werden voller und mächtiger, während Bernd auf seiner Reise über die Erdteile auch selber immer mehr mitgeht - jetzt sind wir bei den Klassikern angekommen, z.B. von der 'Mystic Voyage'. Auch wenn wir weiter den Sternenhimmel sehen: Bei mir im Kopf formen sich die Bilder von Natur und Landschaften, die man in der Neanderhöhle gesehen hat - das ist echtes Kopfkino!

Blauer Himmel deutet an, dass der Kreis sich schließt und wir am Endpunkt der Reise angekommen sind, der auch ihr Startpunkt gewesen ist. Den lang anhaltenden Applaus interpretiert Klaus Sommerfeld so, dass noch eine kleine Fortsetzung gewünscht wird - und in der Tat, Bernd geht noch einmal zurück auf die Bühne und nimmt uns noch einige Minuten mehr in seine Klangwelten mit.  Aber dann muss die Reise leider ein Ende haben, denn da steht ja noch ein zweites Konzert an. Außerdem: Eine 'Session' im Planetarium sollte nie wesentlich länger als eine Stunde sein. Das gibt den Zuschauern zum Beispiel die Gelegenheit, in der Pause Dringendes zu erledigen - wer während der Vorstellung die Kuppel verlassen muss, darf ja bekanntlich bis zur Pause nicht wieder hinein.

Während draußen im Foyer CDs verteilt und verkauft werden, legt Stefan Erbe drinnen noch ein letztes Mal Hand bei Steves Setup an. Ob er ein wenig 'PlaBo-Entzugserscheinungen' hat? Im kommenden Jahr soll es mit 'Sound of Sky' ja weiter gehen. Hier und heute beschränkt er sich auf einige helfende Dienstleistungen, damit der Auftritt seines 'Music Best Buddy' bestens gelingt. Zu dem werden wir per Gong nach einer knappen halben Stunde Pause wieder in die Kuppel gerufen.

Nach einer kurzen Vorstellung von Steve wandert auch hier das Mikrofon weiter zum Musiker. Und auch Steve erinnert gerne an seinen ersten Auftritt an diesem Ort. Den habe ich auch noch im Gedächtnis: Es ist fast genau ein Jahrzehnt her, und legte den Grundstein für die Zusammenarbeit mit Stefan Erbe.  So ist es nicht überraschend, dass zwei Titel aus diesem Projekt Teil des folgenden Sets sein werden. Es werden aber für diese Gelegenheit neu arrangierte Versionen sein, eben ein wenig mehr 'Steve'. Mit 'Dark Gravity' ist dann noch ein neues Stück mit von der Partie, und die Zeit ist so bemessen, dass irgendwann dazwischen auch noch Platz für eine Improvisation sein wird.

Dass man als Hörer schon einmal eine Baltes&Erbe-Titel nicht auf Anhieb erkennt, wenn einer der beiden ihn als 'seine' Solo-Version neu zusammen stellt - diese Erfahrung konnte man ja schon auf Stefans neuem Album machen.  Und ehrlich gesagt, so ergeht es mir auch heute Abend. Steve gelingt es, die drei Zutaten in der folgenden Stunde nahtlos zu etwas Neuem zu vereinen. Ein langes Intro, begleitet von einem fetten und düsteren Rhythmus bringt uns in den Tunnel. in Part 2 läuft die Maschine dann richtig an, und es immer wieder beeindruckend, wie elegant und leichtfüßig Steve dabei zwischen all den vielen Geräten und Gerätchen auf dem Tisch hin- und herspringt. Eine feine Melodie begleitet die Sequenz, und passend zum Stimmungswechsel wird es jetzt auch an der Kuppel heller und bunter. Hatte Klaus-Dieter Unger im ersten Konzert noch durchgängig auf den Sternenhimmel in Reinform gesetzt, so entfaltet sich jetzt ein Feuerwerk abstrakter und geometrischer Gebilde. Die wirken manchmal chaotisch und zufällig, aber letzten Endes sind sie Ergebnis einer Formel oder eines Plans. Und ebenso verfolgt Steve seinen Plan weiter. Sprachfetzen zitieren den Begriff 'Gravity', aber das dazu Gesagte ist weniger wichtig als der Sound, der sich durch Verfremdung und Wiederholung daraus erzeugen lässt.

Die Sequenz gewinnt an Fahrt, und Steve bleibt eine ganz Weile bei ihr - das ist das Feeling, dass ich habe, wenn ich Steves Album 'Bochum Sky' heraus hole. Die Kuppel wird währenddessen auch schon einmal in ein sattes Rot getaucht. So könnte es gerne noch eine Weile weiter gehen, aber ein Wechsel zurück zum dunklen Sternenhimmel begleitet den nächsten Tempowechsel.  Im Schlussteil wird es beinahe ambient: Der Beat ist noch da, aber dumpf und fast unterschwellig, so wie ein Herzschlag. Man hat aber immer das Gefühl, dass unter der Oberfläche etwas brodelt, was jederzeit ausbrechen kann.  Der Ausbruch bleibt indes aus: Im finalen Teil zeigt Steve, dass er auch die leisen Töne beherrscht. Das 'große Finale' bleibt aus, stattdessen steigt er schon fast subtil aus dem Set aus. Der Applaus ist ihm nichtsdestotrotz gewiss. In der vergangenen Stunde ist er bruchlos von einer Stimmung zur nächsten gekommen und hat ein Wechselbad der Gefühle erzeugt.  Eine Zugabe gibt es dieses Mal nicht; mit der Impro am Schluss ist alles gespielt, was gespielt werden sollte. Ein paar weitere Minuten von von irgend etwas wären eher ein unpassendes Anhängsel, was den Gesamteindruck verwässern würde.

So ist es denn noch an Klaus, sich bei denen zu bedanken, die diesen Abend möglich gemacht haben: Bei den Musikern, bei Klaus-Dieter Unger an den Reglern, natürlich beim ganzen Team des Planetariums und - last but not least - all denen, die gekommen sind, um dies zu genießen. Denn ohne Publikum in ausreichender Zahl wären solche Events nicht möglich.

Wo wir bei Veranstaltungen wären: Da stehen beim Schallwende-Verein noch zwei weitere für dieses Jahr im Kalender, nämlich das EM-Breakfast Anfang Dezember und 'Hello' am Ende des Jahres. Und auch die Schallwelle im kommenden Jahr wirft schon ihre Schatten voraus: Die Vorarbeiten für die Wahlen - ebenfalls im Dezember - laufen bereits. Es gibt eben nie Leerlauf in diesem Verein, der sich die Förderung elektronischer Musik auf die Fahnen geschrieben hat. Und dazu gehört auch ein Event wie an diesem Abend - das nicht das letzte seiner Art gewesen sein wird!

Alfred Arnold

 

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.