em:Blog

Featured

Ende und Anfang - Volker Rapp und Ansgar Stock live

Ich habe extra noch einmal nachgeschaut, wann ich ihn zum ersten Mal auf einer Bühne gesehen habe: Es war 2018 auf der Schwingungen-Scheunenparty, als mit Ansgar Stock der mit Abstand jüngste Künstler auf die Bühne trat. Damals war er noch keine zehn Jahre alt, und viele hatten Zweifel, ob sein Interesse an der elektronischen Musik dauerhaft sein würde.

Ansgar Stock im Hier ist nicht da

Nun sind sechs Jahre vergangen: Ansgar ist ein Teenager, hat mittlerweile drei Alben veröffentlicht, und hat die Musik erfreulicherweise nicht aufgegeben. Natürlich hat er sich in den Jahren, auch mit Unterstützung seines Vaters, weiter entwickelt, und traut sich mittlerweile auch zu, ein Abendkonzert in voller Länge zu bestreiten. Bereits Ende November hat er in Bochum gespielt, und jetzt sind es nur noch wenige Stunden bis zum zweiten Advent. Am Vormittag ist gerade das Schallwende EM-Breakfast über die Bühne gegangen, wir sind also schon ein wenig eingegroovt, als wir uns auf den kurzen Weg von Bochum nach Gelsenkirchen machen. Das Wetter ist immer noch feucht und trübe, und es ist auch bereits dunkel. Der Ort, an dem Ansgar spielen wird, strahlt wie eine helle Oase zwischen den dunklen Häusern hervor und hört auf den originellen Namen 'Hier ist nicht da'.  Ob dessen Schöpfer Sesamstrassen-Fan war? Ich erinnere mich an einen Sketch mit Ernie und Bert, der das zum Thema hatte.

Wie auch immer, wir betreten eine gemütliche und überschaubare Location: Das 'Hier ist nicht da' ist eine Mischung aus Treffpunkt und Kulturzentrum, ähnlich zum Beispiel dem 'Makroscope' in Mülheim: Sitzgruppen, Bar, und ein Bühnenbereich mit Platz für vielleicht fünfzig Zuschauer.

Ansgar wird heute nicht der einzige Act des Abends sein. Vor ihm wird mit Volker Rapp noch ein ganz 'alter Hase' der EM-Szene auftreten, bei dem man sich zum Beispiel an Projekte wie 'Demo Art' (live in der Schwebebahn) erinnert, oder seine Planetariums-Konzerte im Stellarium Erkrath. Für seinen heutigen Auftritt hat er eine Überraschung angekündigt, quasi eine Neuorientierung passend zum runden Geburtstag. In diesem Jahr konnte Volker seinen 'Sechzigsten' feiern, zusammen mit einem Album, das diese Zahl als Titel trägt.

Auf die Auflösung dieser Überraschung müssen wir aber noch einen Moment warten, denn die Veranstaltung beginnt mit einem großzügigen 'akademischen Viertel' an Verspätung. Ob man doch noch auf ein paar Zuschauer mehr gehofft hat? Ehrlich gesagt, der Zuspruch bleibt doch ein wenig hinter den Erwartungen zurück. Vor allem, wenn der Club in der Vorwoche fast ausverkauft war. Woran das liegt? Vielleicht am Wetter, vielleicht an der Adventszeit, wo Viele anderes im Kopf haben? Das ist letzten Endes alles Spekulation, und am besten hält man sich an ein anderes akademisches Prinzip: 'Tres faciunt collegium'. Und um diese Zahl zu erreichen, muss sich der Akteur auf der Bühne heute gar nicht einmal selber mit zählen...

Der Bühnenbereich ist groß genug, dass sowohl Volker als auch Ansgar alles im voraus aufbauen konnten. Der Unterschied der Setups ist bemerkenswert: Während Volker sich auf Notebook und ein Keyboard beschränkt, hat man bei Ansgar eher den Eindruck, er und sein Vater hätten ihr halbes Studio nach Gelsenkirchen verfrachtet. Aber es gilt wie immer: Erlaubt ist, was zu den persönlichen Bedürfnissen passt, und das Ergebnis zählt. Volker darf zuerst diesen Beweis antreten:

Anstatt zu verraten, wohin bei ihm zukünftig die Reise gehen wird, geht der Blick erst einmal zurück auf das, was Volker an Projekten in den vergangenen Jahren an Projekten durchgeführt hat. Jeder Titel hat dabei seinen eigenen thematischen Aufhänger. Im Einsteiger-Titel geht es zum Beispiel um das 'Haus des Meeres' in Wien, einen Aqua-Zoo der ganz besonderen Art. Unter Wasser geht es eher still und ruhig zu, und so sind die Basis des Titels auch schwärmerisch. Volker improvisiert dazu auf dem Keyboard. Was da bei oberflächlichem Hören passend klingt, ist auf den zweiten Eindruck doch subtil gegen den Strich gebürstet. Volker ist eben jemand, der auch gerne mal bewusst mit Konventionen und Gewohnheiten 'spielt' - auch auf das Risiko hin, nicht nur Zustimmung zu ernten.

Vom Meer geht im zweiten Track in die Wüste, genauer in jene Wüste in Chile, deren Berggipfel wegen der klaren Luft für Observatorien genutzt werden. Deren Bewegungen wirken im Zeitraffer rhythmisch, und ebenso ist jetzt die Musik. Ach ja: Das dort gebaute Hotel war einmal Kulisse für den Showdown eines James-Bond-Films, und wurde nach der Zerstörung im Film wieder aufgebaut...

...zurück nach NRW, wo Volker über mehrere Jahre im Kunstverein 'Prima Neanderthal ' aktiv war, und es bis zur documenta geschafft hat.  Mal wurden Bäume in goldene Folie gehüllt, mal Fahrräder an eine Hauswand gehängt. Alles wurde dokumentiert, so dass Bilderschau hier als Visual zu den passenden Elektronik-Tracks dienen kann.

Gegen Ende von Volkers Auftritt stellt er seine Interpretation von Jean-Michel-Jarres 'EON' vor: Dies war vor wenigen Jahren der Versuch einer selbst komponierenden App, die aus vorgegebenen Bausteinen (fast) beliebig lange neues erstellt, auch mit Hilfe künstlicher Intelligenz. Die Bausteine sind etwa 90 Sekunden lange Stücke, die man beliebig aneinander reihen kann. Dabei ist der Stil von Volkers Variante durchweg rhythmisch und tanzbar, so wie Jean-Michel Jarre viele seiner Klassiker heute auch oft interpretiert. Die 'Mappe' mit Material wird im kommenden Jahr auch noch erweitert.

Und damit wären wir in Gegenwart und Zukunft angekommen: Wie wird letztere bei Volker aussehen? Die traurige Nachricht ist, dass dies heute sein letzter Live-Auftritt gewesen ist. Die Schlepperei und der Aufbau fallen mit den Jahren schwerer, der Zuschauer-Zuspruch ist geringer geworden - da reifte irgendwann der Entschluss, die Kräfte in Zukunft auf die Studioarbeit zu konzentrieren. Wir werden also in Zukunft weiter von Volker hören, aber ihn nicht mehr so oft sehen...

Das gibt diesem Abend natürlich eine besondere Wendung, denn wo einer seine Live-Karriere beendet, fängt der andere gerade erst damit an. Ein paar Minuten Vorbereitung brauchen Ansgar und Matthias aber noch, und während wir uns Nachschub an der Bar holen, läuft ein Countdown herunter. Ein Countdown? Das hatte man doch schon einmal gehört, nämlich vor ein paar Jahren auf dem Schallwende Grillfest - nur war er damals kürzer und Ansgar trug ein Astronautenkostüm.

Dank dieses Countdowns wissen wir, wann es wieder an der Zeit ist, unsere Plätze einzunehmen, die nicht vorhandenen Gurte anzulegen und den Start von Ansgars Auftritt mitzuerleben. Der ebenfalls 'Countdown' betitelte Track von seinem Erstlingsalbum ist furios, so das eine kleine Atempause danach nicht unwillkommen ist. Ansgar springt von seinem Erstlings- gleich zu seinem aktuellen Album 'Liquid Mirrors', und merkt noch an, dass ab jetzt alles live und ohne Backing-Tracks gespielt wird. Einzig die Sequenzer wollen zu Beginn jeden Titels einmal synchronisiert werden, denn ohne die geht es bei der Berliner Schule nicht. Und die Berliner Schule ist Ansgars bevorzugte Stilrichtung, im Gegensatz zu seinem Vater. Dessen Alben - wenn man sie überhaupt in eine Schublade stecken will - gehen in Richtung Gothic und Industrial und verfolgen eine deutlich härtere Gangart.

Schon beim ersten Titel kann man heraushören, dass die Berliner Schule ein weites Feld ist und Ansgars Interpretation hörbar zu dem Genre tendiert, das sein Vater bevorzugt. Die Sequenzen sind da, und werden schön übereinander gelegt, aber ihr Thema ist bewusst minimalistisch gehalten und wird in allen Variationen durchgespielt. Gut ist dabei auch zu sehen, wie Ansgar zwischen den Keyboards hin- und herwechselt - das ist hier also wirklich alles 'live'.

Im ersten Teil von 'Liquid Mirrors' hat Ansgar die Sequenzer gründlich ausgetestet, daher ist es für Teil zwei an der Zeit, ein Instrument in Betrieb zu nehmen, das  bisher noch auf seinen Einsatz gewartet hat: Das Theremin, genauer gesagt Moogs moderne Interpretation, das 'Theremini'. Theremin zu spielen ist eine besondere Kunst, weil hier ja die 'physische Rückmeldung' der Tasten oder Saiten fehlt. Man muss quasi 'in der Luft' den richtigen Ton treffen. Aber das scheint Ansgar im heimischen Studio hinreichend geübt zu haben, so dass Teil zwei von 'Liquid Mirrors' zu einer sphärischen und etwas leicht geisterhaften Erfahrung wird.

Wem das Theremin etwas zu 'speziell' vom Sound her war, für den hat Ansgar im dritten Teil wieder etwas Versöhnliches parat: Hier laufen wieder die Sequenzen und Melodien, wie es der Freund der Berliner Schule zu schätzen weiß. Da jeder der drei Teile eine Spieldauer hatte, die der Berliner Schule würdig ist, ist auch schon fast eine Dreiviertel Stunde vergangen - Zeit, etwas anderes zu versuchen. Nicht ohne Grund steht noch ein zweiter Hocker bereit, denn jetzt werden Vater und Sohn einen Titel zusammen gestalten. 'Expulsion from Paradise' heißt das gemeinsame Werk, und ist Mitte des Jahres veröffentlicht worden. Wie Berliner Schule, Gothic und Minimalismus miteinander zusammen gehen? Von beidem etwas. Wir hören Flächen, Wind, und minimalistische Sounds zum Einstieg, die nach ein paar Minuten von Ansgars Sequenzen ergänzt werden. Im Gegensatz zu 'Liquid Mirrors' sind die aber auch von der harten und rhythmischen Sorte. Und wer noch Zweifel am Erfolg dieses Experiments hat: Die Studio-Version dieses Tracks wurde keinem geringeren als Carlos Peron gemastert.

'Eine Kleinigkeit hast Du noch', meint Stock Senior, bevor er die Bühne wieder verlässt und sie Ansgar für eine Zugabe überlässt. Nach dem eher 'harten Stoff' ist jetzt wieder Entspannung angesagt. Die Zugabe ist fast komplett improvisiert und noch 'work in progress'. Einen Titel hat dieses Werk auch noch nicht, aber Ansgars Konzert an diesem Abend endet mit einem schönen Ausblick auf die Zukunft.

Die Zukunft baut aber immer auch auf dem Vergangenen auf. Da beides mit den zwei Konzerten an diesem Abend seinen Platz hat, liegt es doch nahe, das in einem Abschluss-Track miteinander zu verbinden? So kehrt Volker doch noch einmal auf die Bühne zurück. Ansgar wirft seine Sequencer noch einmal an, um Volker die Basis für seine Improvisationen zu geben. Für knappe zehn Minuten reichen die Ideen, dann ist (für diesen) Abend wirklich die letzte Note gespielt worden.

Das Wetter draußen auf der Straße ist immer noch nass und unangenehm, aber man registriert es nicht mehr so wie auf dem Hinweg. Dafür ist der Kopf zu voll mit Erinnerungen und Eindrücken. An diesem Abend haben wir quasi ein Ende und einen Anfang erlebt. Ist das zu dick aufgetragen? Vielleicht, und vielleicht überlegt es sich Volker Rapp ja noch einmal. Ein Treffen der Generationen war es auf jeden Fall, und da sich das Jahr 2024 dem Ende zuneigt, regt das zu Spekulationen an, was das kommende bringen wird. Zumindest was die elektronische Musik angeht, und nicht nur die von Volker und Ansgar, bin ich durchaus optimistisch!

Alfred Arnold

Über Empulsiv

Empulsiv wurde 2011 als Webzine für (traditionelle) elektronische Musik gegründet. Es berichtete über ein Jahrzehnt von musikalischen Events und über Veröffentlichungen, präsentierte Interviews und Neuigkeiten aus der Szene. Ende 2022 wurde das Webzine eingestellt. Es wird nun als Infoportal mit Eventkalendar, Linksammlung und Archiv fortgeführt, so dass Neues sowies Vergangenes weiterhin gefunden werden kann.