In den letzten Monaten war Tangerine Dream fast ununterbrochen auf Tour - man könnte meinen, es soll alles nachgeholt werden, was in den zwei Jahren Pandemie nicht besucht werden konnte. Die immer noch zahlreichen Fans in aller Welt danken es mit vollen Häusern. Nach einer Tournee durch die Vereinigten Staaten konnten in diesem Herbst auch wieder einmal die deutschen Fans ihre Lieblings-Band live sehen, ohne dafür ins Ausland reisen zu müssen.
Zur aktuellen Besetzung gehört neben Thorsten Quaeschning und Hoshiko Yamane jetzt Paul Frick. Live gesehen hatte ich ihn zum ersten Mal 2019, auf dem Edgar Froese Memorial Event im Ballhaus Rixdorf in Berlin. Die Zusammenarbeit war offensichtlich so positiv, dass Paul seit 2020 festes Mitglied ist. Paul Frick ist ansonsten auch Teil des Trios 'Brand, Brauer, Frick', und auf dem letztjährigen, positiv angenommenen Studioalbum 'Raum' konnte man hören, in welche Richtung Tangerine Dream sich mit ihm entwickelt hat.
Musik live auf der Bühne ist natürlich noch einmal eine ganz andere Erfahrung als in den heimischen vier Wänden, und so wollte ich TD in diesem aktuellen Lineup auch einmal live erleben. Von den Orten der Live-Tour in Deutschland lag die Lichtburg in Essen für mich am nächsten - ein Ort, der mir nicht komplett unbekannt ist. Vor vielen Jahren wollte ich dort einmal Klaus Schulze mit Lisa Gerrard live sehen. Wegen Krankheit wurde daraus stattdessen ein Solo-Konzert von Lisa mit Klaus' Musik vom Band. Aber die besondere Atmosphäre eines Saals, der als Kino gebaut wurde und noch im originalen Baustil erhalten geblieben ist, blieb mir seitdem in Erinnerung.
Ein wenig 'Retro-Kino-Feeling' kommt denn auch auf, als ich mit den vielen anderen Fans auf Einlass warte: Der Eingang zur Lichtburg, das Kassenhäuschen in der Mitte und über uns der Schriftzug. Im Inneren hat man es verstanden, aktuelle Sound-und Lichttechnik so zu integrieren, dass "50er-Jahre-Kino-Feeling" immer noch zu spüren ist.
Auf der Leinwand werden wir aber heute keinen Kino-Film sehen, sondern die Visuals, mit den TD uns durch ihre über Jahrzehnte gewachsenes und stets im Wandel befindliches Repertoire führen werden. Für den Moment sehen wir nur Bilder von einer dunklen, regnerischen Landschaft, und dazu das Rauschen von Regen oder einer Meeresbrandung. Die Bühne ist sanft ausgeleuchtet und hebt die in weisse Tücher gewickelten Aufbauten hervor. Der Saal ist noch eher schwach besetzt, aber das wird sich bis zum Konzertbeginn ändern: Man hat hier ja Platzkarten, es besteht also keine Notwendigkeit, für einen guten Platz besonders früh kommen zu müssen. Und in der Tat, als die Türen zum Saal geschlossen werden, ist er bis auf ganz wenige Plätze voll besetzt. Ich selber sitze heute auf der Empore, genauso wie damals bei Klaus Schulze. Die das Konzert hier dokumentierende Fotos sind daher dieses Mal aus der Ferne 'geschossen' und nicht ganz so detailreich wie sonst.
Seit Edgar Froeses Tod ist Thorsten Quaeschning der musikalische Leiter des Projekts, und auch an ihm ist es, die Begrüßung und einleitenden Worte zu sprechen. Wann waren wir das letzte Mal in Essen? Oh, das ist lange her, es war 2005. Und was werden wir heute spielen? Wer in den letzten Jahren einmal ein TD-Konzert besucht hat, kennt den Ablauf bereits: Der Reigen der Titel wird kreuz und quer durch die Jahrzehnte und Phasen gehen. Und wenn am Ende davon eine Zugabe gefordert werden wird (wer wollte das in Zweifel ziehen?), dann wird die inzwischen ebenfalls obligatorische Session folgen. Auch wenn Hoshiko, Paul und Thorsten dafür etwas vorbereitet haben, werden sie sich dabei von der Stimmung des Abends tragen lassen.
Zu dieser 'Stimmung' trägt übrigens im doppelten Sinne der jeweilige Saal mit seinen Eigenschwingungen bei: Die heutige Session soll in A-Moll sein, und Thorsten lässt ein paar Töne anklingen. Siehe da, bei A-Moll gerät die ganze Empore fühlbar in Vibration. Spontan kommen mir Erinnerungen an mein allererstes TD-Konzert überhaupt, das war 1997 in der Bonner Beethovenhalle. Damals hat der Saal die ganze Zeit so gebebt. TD-Konzerte sind ja dafür bekannt, die Sound-Anlage bis an ihre Grenzen auszureizen. Insofern bin ich angenehm überrascht, dass der Ton heute zwar auch komfortabel laut ist, aber immer noch in einem Bereich, dass weder die Anlage verzerrt oder dröhnt, noch dass man Angst um seine Trommelfelle haben muss.
Die diesjährige Tour ist mit dem Motto 'From Virgin To Quantum Years' überschrieben, und ganz der Chronologie entsprechend steigen Thorsten, Hoshiko und Paul mit 'Phaedra' ein. Wie viele andere TD-Klassiker auch, hat dieser Titel über die Jahre die eine oder andere Überarbeitung und Metamorphose erfahren, aber das Original und der 'Spirit' dieser frühen Jahre bleibt klar erkennbar. Von 'Phaedra' geht der Sprung mit 'Dolphin Dance' geradewegs zu einem Klassiker aus den 80ern. Bereits hier kann man erkennen, dass Paul einen prägnanten Beitrag an dem Gespielten hat und die eine oder andere Lead-Melodie übernimmt. In dieser Form ist er ein echter Gewinn für das Projekt. Wir bleiben in der Folge mit 'Choronzon' und 'Logos' in den 80ern, um danach einen großen Satz in die Gegenwart zu machen: 'Quantum Gate' hat die gleichnamige Ära bei Tangerine Dream eingeleitet.
So wie wir durch die Jahrzehnte springen, so variieren auch die Längen der einzelnen Tracks: 'Sorcerer', Tangerine Dreams Filmscore-Erstling, darf eigentlich in keinem Konzert fehlen, und ist auch von TD selber schon in vielen Neuauflagen veröffentlicht worden. Die heute gespielte Version kommt weniger dunkel daher, und könnte mit ihrer Dynamik auch als Soundtrack zu einer Verfolgungsjagd in einem Film herhalten. Direkt darauf haben wir mit 'Love on a Real Train' auch wieder eine kleine Verschnaufpause.
Eingestreut in die Setlist sind natürlich auch Titel vom aktuellen Studioalbum 'Raum'. Wir sehen dazu Bilder von den Aufnahmen im Studio, und so wie im diesem Album Einflüsse aus allen Jahrzehnten zu spüren sind, so gemischt scheint auch die Technik zu sein, mit der die Titel aufgenommen wurden: moderne DAWs und Software-Synths sind ebenso im Einsatz wie klassische Analog-Hardware mit ihren unzähligen Reglern und Knöpfen. Es ist eben das Ergebnis das zählt, und man setzt das ein, womit es sich jeweils am besten erreichen lässt.
Ein auffälliger Punkt bei der Titel-Auswahl: Stücke von TD-Alben aus den 90er-Jahren finden sich in der Setlist eher nicht. Natürlich hat jeder TD-Fan seine eigenen Präferenzen, aber es scheint eine Tendenz dahin gehend zu geben, dass nicht viele Alben aus diesen Jahren als stilprägend in Erinnerung geblieben sind. Wie dem auch sei, die Auswahl hat de Publikum heute gefallen, und sie wurde auch durch eine sehr gute Light-Show ergänzt - schlussendlich sind wir ja heute in der Lichtburg!
Es schließt sich das schon von Thorsten angedeutete Ritual an: Die drei Musiker verlassen die Bühne, der Applaus geht weiter, begleitet von Rufen nach der Zugabe. Selbstredend wird jetzt noch die Session folgen, ein Roadie bereitet dafür schon einmal Thorstens Gitarre vor.
TDs Sessions knüpfen an die Tradition der 70er-Jahre an, mit ihren langen Titeln, die sich über mehrere Minuten entwickeln, bei einem bestimmten Thema für einen Moment verweilen und dann zu etwas Neuem weiter ziehen. So ist es auch an diesem Abend, und die Laufzeit dieser Session ist mit einer knappen Dreiviertel Stunde am oberen Ende des Angekündigten. Das liegt nicht nur daran, dass dies hier die - wie Paul im Nachgang meint - Session mit dem bisher langsamsten Tempo der ganzen Tour war, es sind einfach so viele Dinge, die gespielt und zumindest angetestet werden wollen. Auch hier spürt man wieder, dass Paul eine echte Bereicherung darstellt. Nochmaliger, großer Applaus beschließt das heutige Konzert, zusammen mit ein paar Abschiedsworten von Thorsten. Woraus er mittlerweile ein Ritual gemacht hat: Das Selfie auf der Bühne, mit dem Publikum im Rücken.
Wie wichtig Tangerine Dream die Fans nimmt, mag man auch daran ermessen, dass sie sich nach dem Konzert nicht in den Backstage-Bereich verdrücken, sondern im Foyer am CD- und Merchandise-Stand noch eine ganze Weile für Fragen und Autogramme zur Verfügung stehen. Signierte Alben sind natürlich ein begehrtes Sammlerobjekt, aber viele lassen sich auch ihre heutige Eintrittskarte unterschreiben: Ein kleines Reise-Souvenir, nämlich von einer musikalischen Reise, auf der TDs Klänge mich persönlich seit fast 40 Jahren begleiten, und bei anderen noch viel länger. Auch wenn sich Musik und Lineup über die Jahre ändern, und manche sagen, das 'echte TD' wäre 2015 mit Edgar Froeses Tod zu Ende gegangen: Edgars grundlegende Idee, die eigenen Gefühle und Sicht der Welt mit Musik zum Ausdruck zu bringen, ist immer noch da, und sie wird von seinen 'Erben' fortgeführt. Die Reise geht für mich weiter, und dieser Abend in der Essener Lichtburg wird nicht mein letztes TD-Konzert gewesen sein. The dream goes on!
Alfred Arnold