Stefan Erbe hatte sich 2024 eine längere 'Auszeit' genommen. Auf Live-Auftritte hatte er komplett verzichtet, und die 'Retrologica' mit bisher unveröffentlichtem Material war das einzige Erbe-Album im vergangenen Jahr. Das heißt aber nicht, dass er sich auf die faule Haut gelegt hätte: Er hat an der Fortsetzung der Saga um die künstliche Intelligenz GENE gewerkelt. 'Genesys 2023' war einer seiner bisher größten Erfolge, und so waren die Erwartungen an einen Nachfolger entsprechend hoch.
Die Premiere der 2023er-Episode hatte seinerzeit im Planetarium Bochum stattgefunden. Das wäre dieses Mal natürlich auch eine würdige Location gewesen, und das Bochumer Kuppelrund wäre ohne Frage auch wieder gut gefüllt gewesen. Stefan hat sich aber für einen anderen Ort entschieden. Die Sternwarte Hagen hat in der Historie seiner Auftritte einen ebenso hohen Stellenwert. Vor ziemlich genau 30 Jahren war an diesem Ort - hoch über oben Hagens Dächern - sein erster Live-Auftritt überhaupt.
So wurde aus dem Premieren- ein Doppel-Event, das neben der Premiere auch einen Rückblick auf Stefans bisherige Alben geben sollte. Er startete im Vorfeld sogar eine kleine Umfrage, welche Titel man denn zu diesem Anlass noch einmal live hören möchte. Daran mag man ermessen, wie wichtig Stefan Erbe seine Fans und sein Stammpublikum sind. Und die intime Atmosphäre des kleinen Vortragsraums ist für so einen Anlass dann genau das Richtige.
Alles in allem also ein runder Plan, mit nur einem kleinen Fehler: Stefan Erbe hatte das Interesse an so einem Event nach einem Jahr Bühnen-Abstinenz unterschätzt. Die gut 60 Plätze waren in Windeseile ausverkauft, und es gingen so viele Interessenten leer aus, dass er gar nicht umhin kam, einen Zusatztermin für den Freitag zu organisieren. Und auch der war eine Woche vor dem Termin ausverkauft...
...für uns ist aber der Samstag der Tag, an dem wir uns auf den Weg zur Sternwarte Hagen machen. Der ist wie immer ein etwas ungewöhnlicher, denn vor dem Genuss der Musik steht hier die Anstrengung des Aufstiegs. Der Parkraum oben auf dem Gipfel ist sehr begrenzt und reserviert für das Personal sowie diejenigen Besucher, die nicht (mehr) gut zu Fuß sind. Alle anderen stellen ihr Fahrzeug ein paar hundert Meter weiter unten auf einem Parkplatz ab und legen die letzten paar Schleifen des Waldwegs auf Schusters Rappen zurück. Bei der Gelegenheit bieten sich auch schöne Ausblicke auf das Panorama der Stadt Hagen.
Es ist zwar bereits Mitte Februar und die Tage werden schon wieder merklich länger, aber der Winter hat das Land noch im Griff. Das Thermometer zeigt Werte kurz über dem Gefrierpunkt, und links und rechts des Weges liegt noch etwas frisch gefallener Schnee. Nach der letzten Kehre kommt erst der Eugen-Richter-Aussichtsturm ins Blickfeld, und kurz danach Gebäude und Kuppel der Sternwarte. Es ist noch hell und eine Weile hin bis zum offiziellen Einlass, also würde sich ein Blick von der Spitze des Turms anbieten. Leider ist die Tür verschlossen, vielleicht aus Sicherheitsgründen - die Treppe kann bei Minus-Graden rutschig sein und oben auf dem Turm sind die Temperaturen eher unter dem Gefrierpunkt. Ein anderes Mal...
Also schauen wir einmal, ob die Sternwarte um diese Uhrzeit doch schon offen ist. Und in der Tat: Stefan und die anderen Aktiven haben die Türe bereits geöffnet. Der Zutritt ist nicht nur zum Vortragsraum möglich, sondern auch zu einem Aufenthaltsraum daneben mit einer kleinen Sitzgruppe. Dort ist nicht nur der CD-Stand aufgebaut, auch eine kleine Auslage mit Speisen und Getränken. Nach dem Aufstieg sind ein Kaffee und ein warmes Würstchen willkommen, um sich auch von innen wieder aufzuwärmen. Nach und nach trudeln die Besucher ein und die Zeit wird bei den Gesprächen nicht lang. Vom Freitag ist noch alles aufgebaut, und so kann Stefan sich zu der Runde gesellen. Die Gästeliste wird abgehakt, und bei der Gelegenheit erhalten alle Besucher ein kleines Kärtchen mit einem Bandcamp-Download-Code für das neue Album. Natürlich ist dabei auch Zeit, die eine oder andere Erinnerung aufzufrischen - viele der Besucher kennen Stefan und seine Musik auch schon bald dreißig Jahre.
Die Besucher sind alle pünktlich und sind schon ein gutes Stück vor 19 Uhr stellt Stefan fest, dass die Runde vollzählig ist - eine Abendkasse gibt es ja nicht. Also könnten wir ja schon anfangen? Es ist ja wie gesagt alles vorbereitet. Der Aufbau ist bewusst reduziert. Seine kleine Keyboard-Burg steht ganz am Rand und er wird sich während des Auftritts eher im Hintergrund halten. In der Mitte, vor der Projektionswand steht der Subwoofer und darauf ein ominöses Objekt, das wie die Figur eines Astronauten aussieht. Für den Moment verwendet Stefan den Sub aber als Sitzgelegenheit. Für ein paar Erinnerungen an den ersten Live-Auftritt vor 30 Jahren ist noch Zeit: 1995 hatte Stefan gerade sein zweites Album veröffentlicht und dazu das große Glück, zu Winfrid Trenkler in die letzte Ausgabe der 'Schwingungen' im WDR eingeladen zu werden. Das hatte phänomenale Auswirkungen auf die Karten-Nachfrage, und so wie heute kam er nicht um Zusatzkonzerte herum. Der Aufwand war seinerzeit ungleich höher: Ein Beamer war damals noch reiner Luxus und es gab im Vortragsraum keinen fest installierten. Ein Leihgerät musste her, und die 500 Mark Miete konnte Stefan so gerade mit dem Ticket-Einnahmen des ersten Konzerts finanzieren. Eine Traverse mit Scheinwerfern wurde auf den Gipfel transportiert und aufgebaut. Einer der 'alten Hasen' von der Sternwarte ist heute anwesend und kann sich noch gut erinnern. Heute erzeugt ein kleiner Laser ein genauso schönes Lichterspiel, und ein solcher versteckt sich in der erwähnten Astronauten-Figur.
Nun aber zur Musik des ersten Teils, und die geht wie erwartet quer durch die letzten Jahrzehnte. Direkt den Einstieg macht 'When Angels Travel', ein Stück, das Stefan vor einigen Jahren für ein ATB-Album komponiert hat. Im Original es ein halber 'Rausschmeisser', aber über die Jahre hat es immer wieder Veränderungen durchlaufen und bringt uns heute zum Einstieg in den Flow. Die Visuals dazu sind neu, und sie sind - wie alle anderen auch an diesem Abend - von exzellenter Qualität. Auch in dieser Hinsicht ist Stefan in den letzten Monaten fleißig gewesen. Vor dreißig Jahren kamen die Bildern noch vom VHS-Band. Bei aller Erinnerung, die in dieser ersten Stunde mitschwingt, wären die heutzutage einfach nicht mehr vorzeigbar.
Wo aber 'Original-Bildmaterial' hinreichend guter Qualität vorhanden ist, so bekommen wir es heute gezeigt. Das ist zum Beispiel der Zeichentrick-Kurzfilm zu 'Wunderwerk', in dem eine magische Taschenlampe den Menschen ihre Maske vom Gesicht reißt, aber gleichzeitig ihre vorher gehemmten Aggressionen freisetzt. 'Lichtspruch' wird von dem tschechischen Science-Fiction-Film aus den 60ern begleitet, in dem ein im All treibendes Raumschiff untersucht wird - dessen Geheimnisse sich als tödlich erweisen.
Wo wir bei 'Lichtspruch' sind - es stammt vom 2012er Album "The Sounds Of My Comfort 'Sone", und es war meine erste Begegnung mit Stefans Musik. Auf ihm findet sich auch das klassische Titelthema der 'Sound of Sky'-Reihe. Selbiges war auf meiner Wunschliste für diesen Abend, und der Wunsch wird erfüllt: Zwar nicht mit akustischem Live-Bass, nach dem ich scherzhaft gefragt hatte, aber in einer aktualisierten Version, in der die jazzige Bass-Line immer noch ihren prägnanten Platz hat. Doppelt beschenkt fühle ich mich, als auch der andere Wunsch in Erfüllung geht: 'The Girl With The Flaxen Hair', von der 'Selectronique Debussy'. Das war ein Album, das mit den Klassik-Interpretationen ein klein wenig vom 'Erbe-Mainstream' abgewichen ist, aber für mich ist es eines derjenigen, die ich öfters aus dem virtuellen Plattenregal hole. Die Visuals
kombinieren flachsblonde Haare mit roten Lavaströmen.
So ist diese Zeitreise durch Stefans Diskographie auch mit persönlichen Erinnerungen verbunden. Was habe ich gerade gemacht, als dieses oder jenes Album erschienen ist? Dass ich Beziehungen zwischen der eigenen Zeitleiste und den Alben eines Musikers herstellt, ist mir bisher eigentlich nur bei Tangerine Dream und Klaus Schulze passiert. Aber bei der Gelegenheit realisiert man, wie lange man sich schon kennt, und was für eine Zeitspanne 30 Jahre sind.
Natürlich sind auch Titel dabei, die für Stefan eine große Bedeutung haben dürften. Mit 'New York' und 'Cloudcontrol' stammen zwei davon von der 'Method', für die Stefan seinerzeit seine erste Schallwelle eingeheimst hat. Die nächste gab es für die 'Nachtlichter', deren Titeltrack mit von der Partie ist. Deren 'Verleihung' war im Frühjahr 2021 nur online, auf dem Höhepunkt der Pandemie, und ich erinnere mich noch, wie ich für die Aufnahmen mit Sylvia in einem von Stefan aufgebauten Studio saß.
Man hätte sicher noch weitere zwei Stunden mit solchen Momenten füllen können. Nach 60 Minuten beendet mit 'Intermediate' ein weiterer Klassiker die Retrospektive, der heute so frisch klingt wie 1998. Ein ganz trivialer Grund für die Pause: Es muss einmal gelüftet werden! Im vollbesetzten Raum ist die Luft mittlerweile nicht nur mollig warm, sondern auch etwas verbraucht. Falls das schläfrig gemacht haben sollte: Es gibt gegenüber noch Kaffee und andere Getränke! Den dafür fälligen Obulus lege man einfach in die bereit gelegte Glasschale. Wir sind heute ja quasi 'unter uns', das läuft auf Vertrauensbasis.
Eine gute Viertelstunde später wird es richtig spannend, denn jetzt wird das neue Album 'Metamorphosys' in Gänze mit den dafür geschaffenen Visuals präsentiert werden. Auch für den zweiten Teil nimmt Stefan sich die Zeit für eine kurze Einführung: Die Musik von 'Genesys 2023' entstand in vergleichsweise kurzer Zeit, und eigentlich wollte Stefan zu jedem Track nur ein einzelnes Bild in Bochum auf einer Leinwand präsentieren. Aber dann fing er, durch den ersten KI-Hype animiert, damit an, für einen Track einen Visual in voller Länge zu gestalten. Fluch der Kreativität: Jetzt mussten für die restlichen Titel auch solche her, und so wurden die Monate bis zur Premiere sehr intensive. Die dabei verwendeten KI-Systeme haben in den letzten beiden Jahren enorme Fortschritte gemacht, und das wird man den Visuals für 'Metamorphosys' auch ansehen.
Die Musik hatte Stefan ja bereits ein paar Tage vorher veröffentlicht, so dass man sich schon einmal damit beschäftigen konnte. Der erste Eindruck war: Keine Dialoge mehr, auch nicht optional, und keine so explizite Handlung mehr wie noch bei dem 2023er-Vorgänger. Das KI-Thema und GENE sind natürlich immer noch präsent, aber es bleibt mehr Raum für eigene Interpretationen. Mit den Bildern liefert Stefan jetzt eine mögliche davon.
Man muss bekanntermaßen alles dreimal gesehen haben, um es gänzlich verstanden zu haben. Von daher erhebt diese Beschreibung eines ersten Kontakts keinen Anspruch auf Vollständigkeit:
Wir schreiben das Jahr 2290: Künstliche Intelligenzen sind eigenständige Wesen mit eigenem Bewusstsein. Eine von ihnen ist GENE, die vor zwanzig Jahren ein Update und einen Auftrag erhielt. Der Planet, den sie mit ihrem Raumschiff umkreist, ist eine verwüstete und brennende Einöde. Wodurch das passiert ist - Kriege, Umweltzerstörung, oder Naturkatastrophen - das wird offen gelassen. GENE fliegt mit ihrem Raumfrachter AXIS los und macht sich daran, den Auftrag zu erfüllen: Life-Forming, das Kreieren künstlicher Lebensformen. Indes: das dafür geschickte Programm-Update ist unvollständig. Sie versetzt sich in den Schlafmodus und träumt - von der Natur. Sind das die fehlenden Komponenten? Das Life-Forming kann beginnen, und bringt bringt allerlei merkwürdige Kreaturen hervor. Wie schon bei 'Genesys 2023' sitzt Stefan der Schalk im Nacken: Eine von ihnen erinnert deutlich an das Alien-Monster, und andere Wesen sind schlicht und ergreifend absurd, wie ein mechanischer Vierbeiner, der eher früher als später an Ölverlust zu Grunde geht. Am Ende wird es ihm selbst zu bunt und Stefan zensiert sich selber...
Das könnte alles eine Anspielung auf die Merkwürdigkeiten und Halluzinationen sein, die heutige KIs allzu oft hervor bringen. GENE stellt fest, dass sie ihr Programm auf andere Weise ergänzen muss, nämlich Erfahrungen 'echter' biologischer Lebensformen. Die holt sie sich von einem alten Tablet, das sie in den Ruinen eines Hauses findet. Mit den jetzt geschlossenen Wissenslücken klappt auch die Wiederbelebung des Planeten: Erst das Terraforming, dann das Waterforming, und schlussendlich das Life-Forming.
Nachdem GENE dieses Werk vollendet hat, kann sie sich wieder sich selber zuwenden, genauer ihrem eigenen 'Life-Forming'. Gesicht und Augen nehmen menschlichere Züge an, und sie bekommt ein Herz. Das ist der Höhepunkt zum Schluss, der mit den dramatischen Klängen von 'Ultimate' untermalt wird. Hat GENE das korrigiert, was sie an sich selber 'unperfekt' fand?
Damit könnte die Geschichte von GENE ein Ende erreicht haben. Zumindest für den heutigen Abend ist ist das so, und eine Zugabe wäre in diesem Finale auch nicht mehr angebracht. Musik, Bilder und Story konnten durchgängig begeistern. Die Besucher kommender Aufführungen in diesem Jahr - die eine oder andere ist schon 'gebucht' - dürfen gespannt sein, dieses Kapitel kennen zu lernen und zu erleben. Bisher ist nur die Audio-Spur als Download erhältlich; sowohl CD als auch BlueRay werden aber in den kommenden Monaten folgen.
Vereinzelte Stimmen fragen an diesem Abend bereits nach einem weiteren Kapitel. Aber das sollte man aus mehrerlei Gründen auf absehbare Zeit nicht erwarten. Da wäre der enorme Aufwand für so ein Projekt, und die anderen Projekte, an denen Stefan aktuell schon arbeitet. Die immer weiter verfeinerte Präsentation vom 'Metamorphosys' an diversen Orten wird auch ihren Tribut an Zeit fordern.
Also freuen wir uns einstweilen über das gelungene neue Werk von Stefan Erbe. Ein wenig Zeit für Gespräche und Abschied ist noch - niemand wird 'heraus gekehrt'. Aber irgendwann ist dann doch an der Zeit, den Weg wieder bergab zum Parkplatz zu gehen. Hat man wie empfohlen an eine Taschenlampe gedacht? Es ist jetzt kurz nach elf Uhr, und das nächtlich erleuchtete Hagen ist vom dunklen Weg aus schön zu sehen - die 'Nachtlichter' eben. Die haben Stefan 2021 einen Schallwelle-Preis eingetragen. Es würde mich nicht wundern, wenn er im kommenden Jahr mit 'Metamorphosys' auch wieder ganz oben beim Wettbewerb darum mitmischt. Aber bis dahin wird noch viel Wasser Hagens Flüsse herunter fließen, während Stefan Erbe neue Projekte vollendet und Konzerte vorbereitet. Seit dreißig Jahren tut er dies jetzt, und ich habe keinen Zweifel, dass noch viele mehr dazu kommen werden!
Alfred Arnold