Schon eine ganze Weile verbrachte die „Stille Erdtagen-Musik“ von Hagen Bretschneider und Nico Walsers ihr Anwesenheit im Rezi-Ordner des Rezensenten und wartete geduldig auf ihr Empulsiv-Review. Aber warum musste es solange dauern, bis der Redakteur nun endlich den finalen Kritikbogen auflösen konnte?
Nun, um es vorweg zu nehmen, die epische und stilistische Bandbreite des Longplayers braucht mehr als nur ein „loses“ reinhören um die mannigfaltigen Aussagen der Tracks zu verstehen. Die Musik ist derart komplex und umfassend in der Wahl seiner tonalen Waffen, als dass es auch nur annähernd eine musikalische Schublade gäbe, in die das Gesamtkunstwerk passen würde. Vielmehr müsste der gesamte Schubladenschrank seiner Einlagen beraubt werden, um in Gänze eine gerechtfertigte Behausung dafür zu finden. Im Grunde bedient sich das Prog-Rock-Electronik-meets-epischen-Cinema-Content-Album sämtlicher Film-Genres und lässt uns imaginär durch die letzten Jahrzehnte zelluloider Klassiker reisen, ohne dass es ein echtes Bild dafür braucht. Egal ob Scifi-Streifen, Westerndrama oder Arthaus-Roadmovie, Bretschneider und Walser lösen jedes Thema auf ihre Weise und erzählen spannungsgeladene Geschichten, die selten ihre Wirkung verfehlen. Somit möchte sich der Rezensent nun nochmals für die Rezi-Verzögerung entschuldigen, er war noch immer in einem der 15 virtuellen Cinema-Sequels gefangen, obwohl das Popcorn schon seit Wochen „aus“ war.
https://electricmud.bandcamp.com/
Stefan Erbe
Eine der erfreulichsten Überraschungen in diesem merkwürdigen Jahr ist die Veröffentlichung von TWINS IN MIND mit dem Album „L'Essence de la Vie“. Der belgische Komponist und Produzent Adriaan Baussens hat sich als Fan von ENIGMA ganz bewusst auf die Schiene dieses Genres begeben und letztendlich ein wahres Meisterwerk erschaffen, das Michael Cretu nicht besser hätte produzieren können!
Es startet mit diesen ominösen, atmosphärischen Klangsalven, dass einem gleich wohl in der Seele wird. Wenn dann noch die folgenden Tracks die ultrawarmen, rhythmisch-delikaten, üppigen Enigma-ähnlichen Soundcollagen bieten, dürfte jedem Skeptiker der Bann gebrochen sein. Der Höhepunkt jedoch bildet sich in der Mitte des Albums mit dem hammer-kraftvollen, enorm positiven „Boundless Soul“, das schließlich in dicht geknüpfte, tiefe atmosphärische Tracks wie z.B. „Love Is A Sin“ hinübergleitet und dann in eine neue musikalische Welt eintaucht mit dem Titel „Mind Travel“. Viel zu kurz geraten sind hier die überragenden Ethno-Vocal-Schnipsel, die man so noch nie zuvor gehört hat. Doch der süchtig machende Trip geht immer weiter mit Samples und technischen Effekten auf höchstem Niveau bis im vorletzten Song ein Gastsänger (Tom Dahl aus Norwegen) einen euphorischen Auftritt bietet. Auch wenn es noch so abgedroschen klingt: das Album ist Balsam für die Ohren! Und es tut gut, mal wieder einen warmen, überirdischen Sound zu hören, wie damals in den 90ern, als ENIGMA mit seinen ersten 3 Alben die Musikwelt revolutionierte. Sehr empfehlenswert der 45minütige „Continuos Mix“ mit sagenhaften Übergängen. Ein „must-have“ für Fans dieses Genres.
https://twinsinmind.bandcamp.com/album/lessence-de-la-vie
Will Lücken
Ein besonderer Schritt im Leben eines Musikers ist die Gründung eines eigenen Labels: Einerseits verspricht es größere musikalische Freiheit, andererseits bringt es auch die Bürde unternehmerischen Risikos mit sich. In der EM sind solche Label-Gründungen gar nicht so selten, und es gibt auch zahlreiche Fälle, in denen dieses Abenteuer nicht gut ausgegangen ist. Bei Johannes Schmoelling ist die Gründung von "Viktoriapark Records" zwanzig Jahre her, und die sind bisher erfolgreich verlaufen. Da darf man den runden Geburtstag auch mal ein bisschen feiern, am besten nicht nur mit Sekt und Häppchen, sondern auch mit einem
Jubiläums-Release. Und weil Feiern alleine keinen Spaß macht, hat sich Johannes einen Mitspieler zu jedem der Tracks genommen. Derer finden sich gerade einmal vier auf "20", die zusammen auf eine halbe Stunde Spielzeit kommen, und alle bisher unveröffentlicht waren. Johannes zieht die Klasse der Masse vor,
und vielleicht steht dahinter auch die versteckte Botschaft, daß die "echten" Freunde, die man im Verlaufe eines Lebens so findet, meist gar nicht so zahlreich sind?
Wie dem auch sei, alle Titel auf "20" sind echte Schmoelling-Tracks: warm, harmonisch, in der Länge auf den Punkt, und damit auch Belege für Johannes' kompositorische Fähigkeiten. Das, was der EM-Fan an dieser Musik so liebt - Sequenzen, Flächen Rhythmen Melodie - findet sich in den Titeln wieder, und immer in einer wohl-balancierten Form, weder brachial noch endlos ausgewalzt.
Mit "20" hat Johannes Schmoelling nicht nur sich und seinem Label ein feines Geburtstagsgeschenk gemacht - auch die Fans seiner Musik dürfen ein wenig mitfeiern, und haben die Gewissheit, dass "Viktoriapark Records" wohlauf ist und auf absehbare Zeit eine Quelle von EM sein wird, die einen spontanen "Haben wollen" Reflex auslöst.
http://www.viktoriapark-records.de/
http://www.sphericmusic-shop.de
Alfred Arnold
Nur wenige Monate nach dem Meisterwerk "Avalon" liefert Klangzauberer Martins Garden schon das nächste Album. Alle Achtung vor dieser Kreativität. Mit "Below" geht es in die Tiefen der Meere und gleich im Intro zeigt der selbstbewusste Künstler, dass seine Musik da anfängt, wo andere aufhören. Beim rasanten Trip „Into the Deep“ sticht der elektrisierende Sound jäh in die Tiefe wie ein Haifisch auf Ecstasy. Doch die opulente Musik von Marcel Umberg kriegt immer wieder die Kurve und führt den Hörer plötzlich in warme Strömungen nah der Oberfläche, taucht schließlich wieder auf, der wärmenden Sonne entgegen und lässt die Delphine im Downbeat tanzen.
Manche Tracks funktionieren auch als Soundtrack für den Ende 2021 zu erwartenden Kinofilm „Avatar - Teil 2“, wo ich aus sicherer Quelle weiß, dass James Cameron in die Unterwasserwelt von Pandora eintauchen will. Die innovativen Klangcollagen könnten nicht nur den Regisseur inspirieren. Wie dem auch sei. Nach all den atemberaubenden Sounds hätte etwas mehr chillige Entspanntheit dem neuen Werk sicherlich gut gestanden. Aber das sag mal einem Künstler, der noch soviel unbändige Power hat. Daumen hoch.
https://martinsgarden.bandcamp.com/album/below
Will Lücken
Die Verbindung von Musik und Poesie scheint für Rike Casper eine Herzensangelegenheit zu sein. Mit "Wortklangreich" und Bettina Dornberg hat sie es bereits einige Male auf die Bühne gebracht. Mitschnitte hat es davon nie gegeben, man musste schon live dabei sein.
Rikes neues Projekt "zeitzuzeit", dieses Mal mit Bärbel Schulz und Linus Hammacher, hat hingegen direkt auf CD Premiere, anders wäre es in diesen Corona-Zeiten auch kaum gegangen. Bei den Texten greift das Trio auf bekannte (und weniger bekannte) Namen deutscher Lyrik zurück: Das Spektrum reicht von Theodor Fontane und Heinrich Heine bis zu Schiller und Rilke. Immer drehen sich die Texte um die grossen philosophischen Fragen: die eigene Bedeutung, die Höhen und Tiefen des Lebens, Zukunft und Vergangenheit und das eigene, unvermeidliche Ende.
Das ist natürlich nichts zum "Nebenher-Hören", man muss diesem Album schon die volle eigene Aufmerksamkeit schenken. Dann erkennt man auch, wie fein Texte und Musik aufeinander abgestimmt sind: Mal gehen Sprache und Klänge im gleichen Takt, mal muss das eine pausieren, damit das andere seine volle Wirkung entfalten kann. Die Aufmerksamkeit wird mit der einen oder anderen Erkenntnis belohnt, die man gerade in diesen merkwürdigen Zeiten gut gebrauchen kann - die Botschaft der Texte bleibt positiv und lebensbejahend.
Ob das ganze noch "elektronische Musik" ist, wie sie ansonsten hier auf EMpulsiv besprochen wird, darüber darf gerne diskutiert werden. Ich habe in der Vergangenheit schon mehr als einmal Alben vorgestellt, die ihre Grenzen dehnen oder vielleicht sogar sprengen. "Der Augenblick ist mein" ist ein schönes Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn EM ihr "angestammtes Flussbett" einmal verlässt. Und auch nur so kann sie sich weiter entwickeln.
Gerne würde man dieses Trio auch einmal live erleben. Bis dahin sind Texte und Klänge etwas fürs eigene Kämmerlein. Und das ist ja auch nicht schlecht Das ganze Unglück der Menschen rührt angeblich alleine daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen, um einen anderen großen Denker zu zitieren...
https://zeitzuzeit.bandcamp.com
Alfred Arnold